Abdu'l-Bahá: BEANTWORTETE FRAGEN

Hinweis:
Diese Datei ist eine Textwiedergabe des u.g. Buches, jedoch in einem anderen äußeren Layout. Seitenzahlen #xyz befinden sich vorzugsweise am Beginn von Abschnitten, ansonsten am Beginn von Absätzen (oder auch am Ende des vorigen Absatzes, wenn der nächste sehr lang ist), und dienen zur Groborientierung, um einzelne Datei-Segmente im Buch eindeutig anhand des Absatzbeginnes wiederzufinden.

An mehreren Stellen stimmt die Paragraphensetzung nicht mit derjenigen der englischen Vorlage überein.! Z.B. Seite 51 2.Absatz der englischen Vorlage erscheint in der deutschen Version auf Seite 61 in zwei Absätzen. Ebenso z.B. der 1.Absatz Seite 240 der englischen Vorlage erscheint in der deutschen Version auf Seite 233 in zwei Absätzen, usw.

Auf Seite 62 ist das Zitat der englischen Vorlage im 3.Absatz Seite 51 nicht als Zitat, sondern indirekt wiedergegeben.

Auf Seite #210 ist im 2.Absatz ein ganzer Satz nicht übersetzt !!!

In den "Beantworteten Fragen" steht an mehreren Stellen 'e i n ...' in sog. gespreizter Form, z.B. e i n Land. Solche Begriffe wurden wie folgt, gekennzeichnet:

'ein Land'
'ein Volk'
'ein Vaterland'
'eine Gemeinde'
'eine Familie'
'ein Geschlecht'
'einer Religion'
'einem Bekenntnis'
'einer Rasse'
'eine Sonne'
'eine Werkstatt'
'einer natürlichen Ordnung'
'einem allumfassenden Gesetz'
'eine Ordnung Gottes'
'eine Entwicklung des Daseins'
'einen göttlichen Plan'
'einem Gesetz'
'einer Ordnung'

Das kann man natürlich auf Wunsch global schnell wieder ändern !!

???? : Ab dem Kapitel 60 kommt es recht häufig vor daß - wenn Abdu'l-Bahá in der Wirform spricht - dieses wir als Wir erscheint, d.h. Capital !! In anderen Kapiteln hingegen nicht - und in den UHG-zip-files auch nicht. Frage: Woher kommt das große Wir in der Deutschen Ausgabe, wenn es in den UHG-Files lediglich als kleines 'we' erscheint ?

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'ABDU'L-BAHÁ : BEANTWORTETE FRAGEN

Gesammelt von LAURA CLIFFORD BARNEY


Bahá'í-Verlag GmbH , Frankfurt am Main


#4

Das englische Original erschien unter dem Titel "Some Answered Questions"

(c) National Spiritual Assembly of the Bahá'is of the United States of America

Deutsche Übertragung

(c) Bahá'í-Verlag GmbH, Hofheim-Langenhain, 3.Auflage 1977




#5

INHALT

Vorwort aus dem Französischen 9

Vorwort aus dem Englischen 13

1. Teil

ÜBER DEN EINFLUSS DER GOTTESOFFENBARER AUF DIE ENTWICKLUNG DER MENSCHHEIT

1. Die Natur steht unter einem allumfassenden Gesetz 17
2. Beweise und Zeugnisse für das Dasein Gottes 19
3. Über die Notwendigkeit eines Erziehers 21
4. Abraham 26
5. Moses 28
6. Christus 30
7. Muhammad 32
8. Der Báb 38
9. Bahá'u'lláh 40

10. Durch Beispiele aus dem Buche Daniel belegte Beweise aus Überlieferungen 48

11. Erläuterungen zum 11. Kapitel der Offenbarung des Johannes 56
12. Erläuterungen zum 11. Kapitel des Buches Jesaja 70
13. Erläuterungen zum 12. Kapitel der Offenbarung des Johannes 74
14. Geistige Beweise 79
15. Über den wahren Reichtum des Seins 84

2. Teil : ERKLÄRUNGEN EINIGER CHRISTLICHER THEMEN

16. Es bedarf anschaulicher Sinnbilder und Gleichnisse, um Verstandesbegriffe klarzumachen 89

17. Die Geburt Christi 92
18. Die Größe Christi liegt in Seiner Vollkommenheit 94
19. Die Taufe Christi 96
20. Die Taufe 98
21. Die Symbole von Brot und Wein 102
22. Über Wunder 105
23. Die Auferstehung Christi 108
24. Die Ausgießung des Heiligen Geistes 110
25. Der Heilige Geist 111
26. Wiederkunft Christi und Jüngstes Gericht 113
27. Die Dreieinigkeit 115
28. Christi Verklärung 118
29. Sterben in Adam und Leben in Christus 120
30. Adam und Eva 124
31. Lästerung wider den Heiligen Geist 128
32. Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt 130
33. Wiederkunft der Gottesgesandten 133
34. Das Bekenntnis des Petrus 136
35. Prädestination (Vorherbestimmung) 139

3. Teil : ÜBER DIE KRÄFTE UND SEINSWEISEN DER OFFENBARER GOTTES

36. Die fünf Stufen des Geistes 143
37. Gott kann nur durch die göttlichen Offenbarer erkannt werden 146
38. Die drei Seinsweisen der göttlichen Offenbarer 151
39. Über die menschliche und göttliche Seinsweise der Offenbarer 154
40. Das Wissen der Offenbarer 157
41. Die universalen Zyklen 159
42. Macht und Einfluß der göttlichen Offenbarer 161
43. Die zwei Arten von Propheten 163

44. Erklärung des göttlichen Tadels, der scheinbar den Offenbarern erteilt wurde 166

45. Erklärung des Verses aus dem Buche Aqdas: "Keiner kommt dem Aufgangspunkt des Befehls in der höchsten Reinheit gleich." 170

4. Teil : VERSCHIEDENE THEMEN

74. Nichtexistenz des Bösen 255
75. Zweierlei Arten von Qual 257
76. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes 258
77. Die richtige Art, Verbrecher zu behandeln 260
78. Streik 265
79. Die Wirklichkeit der äußeren Welt 269
80. Wahre Präexistenz 272
81. Reinkarnation 272
82. Pantheismus 279
83. Die vier Wege, Erkenntnis zu erwerben 285
84. Die Notwendigkeit, den Lehren der göttlichen Offenbarer zu folgen 287

Index 293








#9

VORWORT

Die kleine historisch bedeutsame Stadt 'Akká liegt an einer Bucht des Mittelmeeres gegenüber dem Berg Karmel. Hier fand Bahá'u'lláh, der Begründer der Bahá'í-Weltreligion Seine letzte Ruhestätte. Er war aus Seinem Heimatlande Persien verbannt worden, da Er Sich dem Glauben Siyyid 'Alí Muhammads, bekannt unter dem Namen "Báb", d.h. das "Tor", zugewandt hatte. Der Báb verkündete Reformen und ein geistiges Wiedererwachen der Religion in jenem Lande. Nachdem der Báb in Tabríz im Jahre 1850 auf Befehl der Regierung Násiri'd Dín Sháhs hingerichtet worden war, widmete Bahá'u'lláh Sein Leben dieser erneuernden Bewegung. Er wurde im Kerker gefangengehalten, Sein Eigentum und Seine Besitztümer wurden beschlagnahmt und Er Selbst aus Persien verbannt.

Im Jahre 1863 verkündete Er in Baghdád, Seiner ersten Zufluchtsstätte nach Seiner Vertreibung, die Errichtung der Bahá'í-Weltreligion. Sein Einfluß und Ruhm nahmen in einem solchen Maße zu, daß der Sultán der Türkei, 'Abdu'l-Azíz, beunruhigt und argwöhnisch wurde. Er verbannte Bahá'u'lláh zuerst nach Konstantinopel, dann nach Adrianopel und endlich nach 'Akká, wo er Ihn in dem dortigen Gefängnis einkerkern ließ. Die Familie Bahá'u'lláhs und einige wenige Anhänger folgten Ihm dorthin. Zwei Jahre später wurden Er und Seine Begleiter in verschiedene Häuser gebracht, wo sie sieben Jahre lang in Haft blieben, bis man ihnen zuletzt gestattete, außerhalb der Stadtmauern eine Wohnung zu nehmen.

Während dieser langen und schmerzensreichen Zeit der Verbannung begann Bahá'u'lláh Seine zahlreichen Schriften zu verfassen: Über die geistige Entwicklung des Menschen, die stetig sich erneuernde Gottesoffenbarung durch Seine Manifestationen und die wirtschaftliche und soziale Ordnung der Welt. Schon vor der Wende zum 20. Jahrhundert hatte Er auf die gegenseitige Abhängigkeit der Menschen hingewiesen und auf die dringende Notwendigkeit zur Schaffung eines mächtigen Weltparlamentes aller Nationen und eines Weltschiedsgerichtshofes, der den Frieden errichten und behaupten sollte, aufmerksam gemacht. Als Bahá'u'lláh 1892 starb, folgte Ihm auf Seinen ausdrücklichen Wunsch Sein Sohn, der in Syrien unter dem Namen 'Abbás Effendi, allgemein aber als 'Abdu'l-Bahá bekannt war.

#10

Es wurde 'Abdu'l-Bahá während Seiner Gefangenschaft in 'Akká, das damals ein Teil des türkischen Reiches war, erlaubt, eine bestimmte Zahl von Besuchern zu empfangen. Hier führte ich in den kritischen Jahren 1904-06, als Er dauernd von der Verbannung in entlegene Wüstengefängnisse bedroht war, zwanglose Gespräche mit Ihm. Damit größte Genauigkeit in der Berichterstattung gewährleistet wurde, richtete ich es so ein, daß stets einer der vier untengenannten Perser zugegen war: Mírzá Hádíy, der Schwiegersohn 'Abdu'l-Bahás und Vater des späteren Hüters des Bahá'í-Glaubens, Shoghi Effendi, Mírzá Muhsin, ebenfalls ein Schwiegersohn, Mírzá Núridín und Mírzá Munír, die beiden Sekretäre 'Abdu'l-Bahás. Nach der Unterhaltung legte ich 'Abdu'l-Bahá den persischen Text vor. Er las ihn, änderte hier und da ein Wort oder eine Zeile mit Seiner Rohrfeder, unterzeichnete und versiegelte das Ganze mit Seinem Siegel. Es geschah dies in der gleichen Weise wie bei Seinen Tablets, denen Er damit allgemeine Gültigkeit verlieh. Die persischen Originaltexte wurden 1936 dem Hüter zugesandt und befinden sich heute im Bahá'í-Archiv.Nach der Revolution des ottomanischen Reiches 1908 und dem Untergang des Sultanats befreiten die Jungtürken die politischen und religiösen Gefangenen der früheren Regierung. Wenige Jahre später konnte 'Abdu'l-Bahá Ägypten, Europa und Nordamerika besuchen. Hier empfing Er alle die, die Ihn suchten, nahm Einladungen an, sprach in Tempeln, Kirchen, Universitäten, vor den verschiedensten Glaubensrichtungen, z.B. vor Theosophen, den Mitgliedern der Heilsarmee und vor privat geladenen Hausgästen von Freunden. 1921 starb 'Abdu'l-Bahá in Haifa, am Fuße des Berges Karmel. Sein letzter Wille bestimmte Seinen Enkel Shoghi Effendi zum ersten Hüter des Bahá'í-Glaubens. Dieses Amt nahm Shoghi Effendi mit größter Befähigung wahr. Er erfüllte die von 'Abdu'l-Bahá gestellte Aufgabe, in allen Ländern der Erde den administrativen Aufbau des Glaubens zu verwirklichen. Als der Hüter 1957 starb, hatte sich der Glaube in mehr als 250 Ländern verbreitet, und er dehnt sich auch heute fortwährend weiter aus.

#11

Die Regierung des heutigen Israel hat die Bahá'í-Religion anerkannt als ebenso bedeutsam wie die übrigen großen Glaubensbekenntnisse, die im Heiligen Land durch Gemeinden, Einrichtungen und Gebäude vertreten sind. So befinden sich hier die Grabstätten des Báb, Bahá'u'lláhs und 'Abdu'l-Bahás und der Verwaltungsmittelpunkt der gesamten Bahá'í-Weltgemeinde.

Laura Dreyfus Barney

Übersetzung des französischen Vorwortes zu "Les Leqons de Saint Jean d'Acre".

#12


#13

VORWORT ZUR ENGLISCHEN AUSGABE.

"Ich widmete dir Augenblicke der Ermüdung", waren die Worte 'Abdu'l-Bahás, als Er nach der Beantwortung einer meiner Fragen von der Tafel aufstand.

Wie an diesem Tage, so war es immer: Zwischen den Arbeitsstunden fand Seine Ermüdung Erholung in neuer Tätigkeit. Gelegentlich war es Ihm möglich, ausführlich zu sprechen, aber oft wurde Er nach wenigen Augenblicken abgerufen, obwohl das Thema längere Zeit zur Behandlung erfordert hätte. Dann konnten Tage, ja Wochen vergehen, in denen Er keine Gelegenheit fand, mich zu unterweisen. Aber ich konnte gut geduldig sein, denn ich hatte stets die große Unterweisung vor Augen - die Unterweisung durch Sein persönliches Leben.

Während meiner verschiedenen Besuche in 'Akká wurden diese Ausführungen in persischer Sprache, während 'Abdu'l-Bahá sprach, niedergeschrieben, nicht in der Absicht, sie zu veröffentlichen, sondern um sie zu meinen künftigen Studien aufzubewahren. Zunächst mußten sie der wörtlichen Übersetzung des Dolmetschers, später, als ich anfing, persisch zu verstehen, meinem begrenzten Wortschatz angepaßt werden. Daraus erklären sich die Wiederholungen der Vergleiche und Redewendungen, denn niemand beherrschte seine Sprache vollendeter als 'Abdu'l-Bahá. In diesen Unterweisungen ist Er der Lehrer, der sich Seinem Schüler anpaßt, und nicht der Redner und Dichter. Dieses Buch berührt nur einige Gesichtspunkte der Bahá'í-Lehre, die ihrer Botschaft nach umfassend ist und jedem Fragenden die Antwort gibt, die seiner besonderen Entwicklungsstufe und dem, was ihm nottut, entspricht.

In meinem Falle waren die Lehren in einfacher Form gegeben, meinem damaligen unausgebildeten Wissen entsprechend. Daher sind sie keineswegs vollständig und erschöpfend, wie dies nach dem Inhaltsverzeichnis erscheinen mag. Das Inhaltsverzeichnis wurde nur beigefügt, um auf die behandelten Themen hinzuweisen.

Da ich glaubte, daß das, was mir so wertvoll war, auch anderen von Nutzen sein könnte, weil doch alle Menschen trotz ihrer Verschiedenheiten in ihrem Suchen nach der Wahrheit eins sind, bat ich 'Abdu'l-Bahá um die Erlaubnis, diese Gespräche zu veröffentlichen.

#14

Diese Lehren wurden ursprünglich nicht in einer bestimmten Reihenfolge gegeben, sondern jetzt erst zur Erleichterung für die Leser nach Themen geordnet. Der persische Text wurde genau übersetzt, manchmal zum Nachteil des englischen. Nur wo die wörtliche Wiedergabe zu verworren und unverständlich schien, wurden einige Änderungen angebracht. Die eingeschobenen Worte, die notwendig waren, um den Sinn klarer zu machen, wurden nicht besonders bezeichnet, um zu häufige Unterbrechungen des Textes durch technische oder erklärende Hinweise zu vermeiden ...

Mai 1907

Laura Clifford Barney




#15

ERSTER TEIL

ÜBER DEN EINFLUß DER GOTTESOFFENBARER AUF DIE ENTWICKLUNG DER MENSCHHEIT

#16

#17

+1. Kapitel

DIE NATUR STEHT UNTER EINEM ALLUMFASSENDEN GESETZ

Die Natur ist jener Zustand, jene Wirklichkeit, die anscheinend Leben und Tod, oder mit anderen Worten Zusammensetzung und Auflösung aller Dinge, umfaßt.

Diese Natur ist einem vollendeten Gefüge, bestimmten Gesetzen, einer vollständigen Ordnung und einem vollkommenen Plan unterworfen, von denen sie niemals abweicht; und zwar in so hohem Maße unterworfen, daß man in ihr bei sorgfältiger Betrachtung und geistiger Wahrnehmung vom kleinsten unsichtbaren Atom bis zu solch großen Dingen der Welt des Daseins, wie der Sonne oder den anderen großen Sternen und leuchtenden Himmelskörpern, sei es in ihrer Anordnung und Zusammensetzung, sei es in ihrer Form und Bewegung, den höchsten Grad der Ordnung findet und erkennt, daß alles unter einem unausweichlichen, vollkommenen Gesetz steht.

Wenn man aber die Natur selbst betrachtet, sieht man, daß sie weder Verstand noch Willen besitzt. So liegt es zum Beispiel in der Natur des Feuers, daß es brennt, und es tut dies ohne Willen und Verstand; die Natur des Wassers ist, daß es fließt, und es tut dies ohne Willen und Verstand; die Natur der Sonne ist, daß sie leuchtet, auch sie leuchtet ohne Willen und Verstand; die Natur des Dampfes ist, aufzusteigen, und er steigt ebenso ohne Willen und Verstand auf. Damit ist klar erwiesen, daß alle natürlichen Bewegungen der erschaffenen Dinge zwangsläufige Vorgänge sind und sich nichts nach eigenem Willen bewegt, mit Ausnahme des Tieres und vor allem des Menschen. Der Mensch vermag sich der Natur zu widersetzen und von ihren Wegen abzuweichen, weil er die Struktur der Dinge entdeckt hat und damit den Kräften der Natur gebietet. Alle Erfindungen, die er gemacht hat, beruhen auf der Entdeckung der Struktur der Dinge. So hat er zum Beispiel die Telegraphie erfunden, die Ost und West verbindet. Darum sehen wir deutlich, daß der Mensch die Natur beherrscht.

#18

Kann nun, bei dieser systematischen Ordnung und Gesetzmäßigkeit, die man im ganzen Dasein erkennt, gesagt werden, dies alles sei aus dem Wirken der Natur heraus entstanden, obwohl sie selbst weder Verstand noch Wahrnehmungsvermögen besitzt? Dies zeigt uns deutlich, daß diese Natur, die weder Verstand noch Einsicht hat, in der Hand des Allmächtigen ruht und daß Er das Reich der Natur regiert und in ihr alles, was Er will, erscheinen läßt.

Eines der Dinge, welches in der Welt des Daseins erschienen ist und eine Naturnotwendigkeit darstellt, ist das menschliche Leben. So betrachtet, wird die Natur zur Wurzel und der Mensch zum Zweige. Ist es wohl möglich, daß Wille, Verstand und Vollkommenheit nur im Zweig, nicht aber in der Wurzel wären?

Daraus geht klar hervor, daß die Natur in ihrem innersten Wesen in der machtvollen Hand Gottes ruht. Der ewig Allmächtige und Eine ist es, Der die Natur in ihren ehernen Bahnen und Gesetzen hält und ihr Herrscher ist.¹

¹ Zur Idee Gottes cf. Kap.37: "Gott kann nur durch die göttlichen Offenbarer erkannt werden", p.146-215, und Kap. 59: "Menschliche Gotteserkenntnis", p.213. Der Bahá'í-Glaube vertritt keine anthropomorphe Gottesauffassung. Wenn in dieser Abhandlung die übliche Terminologie angewendet wird, erfolgt eine sorgfältige Erklärung der symbolischen Bedeutung.



#19

+2. Kapitel

BEWEISE UND ZEUGNISSE FÜR DAS DASEIN GOTTES

Ein umwiderlegbarer Beweis für das Dasein Gottes ist die Tatsache, daß sich der Mensch nicht selbst erschaffen hat. Sein Schöpfer und Bildner ist ein anderer als er selber.

Es ist gewiß und außer Zweifel, daß der Schöpfer des Menschen anders als der Mensch ist; denn ein schwaches Geschöpf kann nicht der Schöpfer eines anderen Wesens sein. Im Schöpfer müssen alle Vollkommenheiten vereint sein, damit er erschaffen kann.

Wäre es möglich, daß die Schöpfung vollkommen ist und der Schöpfer unvollkommen? Ist es denkbar, daß ein Bild ein Meisterwerk ist, und der Maler nicht in seiner Kunst vollkommen? Das Bild ist doch seine Kunst und seine Schöpfung. Nein, das Bild kann nicht einmal dem Maler gleichkommen, denn wäre es wie er, dann könnte es sich ja selber malen. Wie vollkommen das Bild auch sein mag, so bleibt es doch im Vergleich zum Maler völlig unvollkommen.

Bedingtsein ist die Quelle der Unvollkommenheit, während Gott die Quelle der Vollkommenheit ist. Die Unvollkommenheit der bedingten Welt ist an sich ein Beweis für die Vollkommenheit Gottes.

Wenn du zum Beispiel den Menschen betrachtest, so siehst du, daß er schwach ist. Diese Schwachheit des Geschöpfes ist ein Beweis für die Stärke des ewig Allmächtigen und Einen, denn wenn es keine Stärke gäbe, wäre Schwäche unvorstellbar. Daher erweist die Schwäche des Geschöpfes die Stärke des Schöpfers, denn wenn es keine Stärke gäbe, könnte auch keine Schwäche sein. Die Schwäche selbst beweist uns, daß es in der Welt Stärke geben muß. Ein anderes Beispiel ist die Armut in dieser bedingten Welt. Zweifellos muß es auch Reichtum geben, da Armut auf der Erde offensichtlich ist. Ferner gibt es in dieser bedingten Welt Unwissenheit. Deshalb muß es auch Wissen geben, denn gäbe es kein Wissen, so könnten wir auch keine Unwissenheit feststellen. Unwissenheit ist das Nichtsein von Wissen, und wenn es kein Sein gäbe, wäre auch ein Nichtsein nicht vorstellbar.

#20

Es ist gewiß, daß diese ganze bedingte Welt unter einer Ordnung und unter Gesetzen steht, denen sie sich nicht zu entziehen vermag. Sogar der Mensch ist dem Tode, dem Schlaf und anderen Naturgesetzen unterworfen. Er wird in mancherlei Hinsicht beherrscht, und zweifellos muß dieser Beherrschte einen Herrscher haben. Weil Abhängigkeit ein Kennzeichen für bedingte Wesen und eine wesentliche Notwendigkeit ist, muß auch ein unabhängiges Wesen existieren, zu dessen Wesen Unabhängigkeit gehört.

So erkennen wir zum Beispiel an einem Kranken, daß es Gesundheit geben muß, denn gäbe es keine Gesundheit, könnte auch keine Krankheit erwiesen werden.

Daraus geht hervor, daß es einen ewig Allmächtigen und Einen gibt, Der alle Vollkommenheiten in Sich vereint, denn besäße Er sie nicht, wäre Er Seinen Geschöpfen gleich.

So beweist auch das kleinste erschaffene Ding in dieser Welt des Daseins, daß es einen Schöpfer gibt. Zum Beispiel beweist dieses Stück Brot, daß jemand es hergestellt hat.

Gelobt sei Gott! Die geringste Veränderung in der Form des unscheinbarsten Dinges weist darauf hin, daß sie einen Urheber haben muß. Und dieses gewaltige und unendliche Weltall sollte sich selber erschaffen haben und durch die Tätigkeit der Elemente und Stoffe aus sich Selbst entstanden sein? Welch ein wunderlicher Irrtum ist eine solche Annahme. Diese handgreiflichen Beweise werden für schwache Seelen angeführt, denn wo sich das innere Auge auftut, sieht es hunderttausendfach klare Beweise. Damit soll gesagt sein, daß der Mensch, der den Geist in seinem Inneren fühlt, keines weiteren Beweises für das Vorhandensein des Geistes bedarf. Aber für jene Menschen, die der Segnungen des Geistes nicht teilhaftig sind, muß man Beweise aus der gegenständlichen Welt erbringen.



#21

+3. Kapitel

ÜBER DIE NOTWENDIGKEIT EINES ERZIEHERS

Betrachten wir die Welt des Daseins, so sehen wir, daß das Mineral, die Pflanze, das Tier und der Mensch einen Erzieher brauchen.

Bleibt die Erde unbebaut, so wird sie zur Wildnis, in der Unkraut wächst. Wenn aber der Bauer kommt und sie beackert, bringt sie Ernten hervor, die als Nahrung für Lebewesen dienen. Daraus ergibt sich klar, daß die Bearbeitung der Erde durch den Bauer notwendig ist. Betrachte die Bäume: Ohne die Pflege des Gärtners würden sie keine Früchte tragen, und ohne Früchte wären sie nutzlos. Durch die Pflege des Gärtners aber werden diese ertraglosen Bäume Früchte hervorbringen, und durch Pflege, Veredelung und Pfropfung geben Bäume, die bittere Früchte trugen, süße her. Dies sind verstandesmäßige Beweise, denn heute benötigen die Menschen logische Beweisgründe.

Betrachte in gleicher Weise die Tierwelt: Wird ein Tier vom Menschen gepflegt und erzogen, so wird es zum Haustier. Wenn dagegen ein Mensch ohne Erziehung aufwächst, so wird er zum Tier, ja, wenn er der Natur allein überlassen bleibt, sinkt er sogar unter das Tier herab; wenn er aber richtig erzogen wird, kann er zum Engel werden. Tatsächlich fressen die meisten Tiere nicht ihre Artgenossen auf, während manche Menschen im Inneren Afrikas noch ihresgleichen töten und fressen.

Bedenke nun, daß es die Erziehung ist, die den Osten und den Westen unter die Herrschaft des Menschen bringt. Die Erziehung bringt wunderbare Gewerbe zur Vollkommenheit und unterhält herrliche Wissenschaften und Künste. Sie ist es, die neue Entdeckungen und Gesetze offenbar macht. Gäbe es keinen Erzieher, wären solche Dinge, die das Leben bequem und leichter machen, oder zum Beispiel Kultur und Menschlichkeit nicht da. Wenn man einen Menschen in der Wildnis sich selbst überläßt, und er seinesgleichen nicht sieht, wird er zweifellos wie ein Tier werden. Damit haben wir klar die Notwendigkeit eines Erziehers bewiesen.

#22

Es gibt drei Arten der Erziehung: die körperliche, die menschliche und die geistige Erziehung.

Die körperliche Erziehung befaßt sich mit Fortschritt und Entwicklung des Körpers, indem sie materielle Erleichterungen, Behaglichkeit und Entspannung für ihn sicherstellt. Sie gilt in gleicher Weise für Menschen und Tiere.

Die menschliche Erziehung bedeutet Kultur und Fortschritt, nämlich Regierung, Verwaltung, Wohlfahrtseinrichtungen, Verkehr, Handel und Gewerbe, Künste, Natur- und Geisteswissenschaften, große Erfindungen und Entdeckungen physikalischer Gesetze. Diese Äußerungen des Menschengeistes machen den Unterschied zur Tierwelt deutlich.

Die geistige, göttliche Erziehung ist die Erziehung zum Himmelreich. Durch sie erwirbt der Mensch göttliche Vollkommenheiten. Sie ist die wahre Erziehung, denn auf dieser Stufe tritt das Göttliche im Menschen in Erscheinung, und die Worte "Lasset Uns Menschen schaffen nach Unserem Bild und Gleichnis", werden in ihm offenbar. Dies ist das höchste Ziel der Menschheit.

Dazu brauchen wir einen Erzieher, der zugleich körperlicher, menschlicher und geistiger Erzieher ist, und dessen Autorität in allen Bereichen Einfluß hat. Wenn jemand sagen wollte: "Ich habe einen vollkommenen Verstand und ein rasches Auffassungsvermögen und bedarf dieses Erziehers nicht", so würde er selbstverständliches leugnen und wie ein Kind sein, das sagen würde: "Ich brauche keine Erziehung, ich werde nach meiner Einsicht und Vernunft verfahren und so alle Vollkommenheiten der Welt erwerben", oder er wäre wie ein Blinder, der sagen würde: "Ich brauche kein Augenlicht, denn es gibt viele Blinde, die sich zurechtfinden können."

Die Notwendigkeit eines Erziehers für den Menschen ist demnach klar und deutlich erwiesen. Dieser Erzieher muß zweifellos auf allen Gebieten vollkommen sein und alle anderen Menschen übertreffen, denn sonst könnte er nicht ihr Erzieher sein, um so mehr, da er ihr körperlicher, menschlicher und zugleich geistiger Erzieher sein muß. Dies bedeutet, daß er die Menschen lehrt, die materiellen Dinge zu ordnen und voranzubringen und die menschliche Gemeinschaft so zu gestalten, daß gegenseitige Hilfe und Fürsorge eingerichtet und alle materiellen Fragen in jeglichen Verhältnissen geordnet und geregelt werden.

#23

Ebenso wird er die Erziehung des Menschen in die Wege leiten. Das heißt, er muß Verstand und Gedanken so erziehen, daß sie umfassende Fortschritte machen können, so daß Wissenschaften und Erkenntnisse sich auf größere Gebiete ausdehnen und die Wirklichkeit der Dinge, die Geheimnisse der Geschöpfe und die Eigentümlichkeiten des Daseins entdeckt, Unterweisungen, Erfindungen und Gesetze mit jedem Tag verbessert werden, und daß Schlüsse aus den Sinneswahrnehmungen der materiellen Welt in bezug auf die geistige Welt gezogen werden können.

Genau so muß er geistige Erziehung vermitteln, damit Verstand und Erkenntnis die göttliche Welt zu durchdringen vermögen und, durch den weihevollen Odem des Heiligen Geistes begnadet, die Verbundenheit mit den höchsten Heerscharen gewinnen. Durch ihn muß das menschliche Wesen so sehr zum Erscheinungsort des Göttlichen werden, daß die Namen und Eigenschaften Gottes im Spiegel der Wirklichkeit des Menschen erstrahlen und der gesegnete Vers: "Lasset Uns Menschen machen nach Unserem Bild und Gleichnis", verwirklicht wird.

Es ist klar, daß menschliche Kraft allein nicht zur Erfüllung eines so großen Auftrages ausreicht und daß durch den Verstand allein so hohe Aufgaben nie gelöst werden können. Wie wäre ein einzelner Mensch ohne Hilfe und Beistand fähig, den Grund zu diesem erhabenen Bau zu legen? Es muß ihm also eine geistige, göttliche Kraft zu Hilfe kommen, damit er eine solche Aufgabe zu bewältigen vermag. Eine einzige heilige Seele kann dann die ganze Menschheit beleben und das Antlitz unseres Planeten verwandeln. Sie fördert die Verstandeskräfte, erweckt die Seelen und begründet ein neues Leben, legt das Fundament zu einer wunderbaren Neuschöpfung, verleiht der Welt eine neue Ordnung und vereinigt die Völker und Religionen unter dem Schutz eines einzigen Banners. Sie befreit die Menschen von Unvollkommenheit und Laster und beseelt sie mit Sehnsucht und dem Verlangen nach angeborenen und erworbenen Tugenden. Sicherlich muß die Kraft, die ein solches Werk vollbringen soll, göttlich sein. Wir müssen bei der Beurteilung dieser Frage gerecht sein, denn hier ist Gerechtigkeit nötig.

#24

Eine Sache, die alle Regierungen und Völker der Welt mit all ihrer Macht und ihren Heeren nicht zu verkündigen und auszubreiten vermögen, wird durch eine einzige heilige Seele ohne Hilfe und Beistand vorwärtsgebracht! Ist dies den menschlichen Kräften möglich? Nein, bei Gott! So hat Christus allein und ohne Hilfe das Banner des geistigen Friedens und der Rechtschaffenheit erhoben, während alle siegreichen Regierungen mit ihren Heeren dazu unfähig waren. Denke daran, was aus so vielen verschiedenen Reichen und Völkern wurde: Das römische Reich, Frankreich, Deutschland, Rußland, England und andere; alle versammelten sich unter dem einen Zelt. Damit soll gesagt sein, daß das Erscheinen Christi diese verschiedenartigen Völker zur Einigkeit führte. Unter dem Einfluß des Christentums ging diese Einigkeit bei manchen dieser Völker so weit, daß sie Gut und Leben füreinander opferten. Nach der Zeit Konstantins, des Vorkämpfers für die Christenheit, brach allerdings wieder Uneinigkeit unter ihnen aus. Der Punkt aber, auf den es mir ankommt, ist, daß Christus etwas vollbracht hat, was alle die Könige der Erde nicht fertigbringen konnten. Er vereinigte die verschiedenen Religionen und änderte alte Sitten. Bedenke, welch große Verschiedenheit zwischen Römern, Griechen, Syriern, Ägyptern, Phöniziern, Israeliten und anderen Völkern Europas bestanden hatte. Christus hob alle Gegensätze auf und wurde zum Vermittler der Liebe zwischen diesen Völkern. Obwohl ihre Regierungen diese Einheit später zerstörten, hatte Christus Sein Werk doch vollendet.

Ein vollkommener Erzieher muß demnach gleichzeitig nicht nur ein körperlicher, sondern auch menschlicher und geistiger Erzieher sein; und es muß ihm eine übernatürliche Kraft gegeben sein, die ihn zum hohen Rang des göttlichen Lehrers erhebt. Wenn er keine so heilige Kraft besäße, könnte er nicht erziehen, denn wäre er selber unvollkommen, wie könnte er dann vollkommene Erziehung vermitteln? Wenn er unwissend wäre, wie könnte er andere zum Wissen führen? Wenn er selber ungerecht wäre, wie könnte er andere gerecht machen, oder wenn er selber irdisch gesinnt wäre, wie könnte er andere göttlich machen?

Nun müssen wir gerecht prüfen, ob die göttlichen Offenbarer¹, die in die Welt gekommen sind, alle diese Eigenschaften besessen haben. Wenn sie diese Eigenschaften und Vollkommenheiten nicht besaßen, konnten sie keine wahren Erzieher sein.

¹ Göttliche Offenbarer sind die Begründer der Religionen. cf. dazu Kap.43: "Die Zwei Arten von Propheten", p.163

#25

Wir müssen daher die Prophetenschaft Mose, Christi und der anderen Offenbarer Gottes durch verstandesmäßige Beweise für verständnisvolle Menschen prüfen. Diese Beweise und Zeugnisse, die Wir anführen wollen, dürfen sich nicht auf überlieferte Argumente, sondern nur auf verstandesmäßige stützen.

Es wurde jetzt durch vernünftige Schlußfolgerung bewiesen, daß für die Welt ein Erzieher von größter Notwendigkeit ist und daß diese Erziehung durch göttliche Kraft bewirkt werden muß. Ohne Zweifel ist diese göttliche Kraft auf Eingebung zurückzuführen, und die Erziehung der Menschheit durch diese Kraft, die über jeder menschlichen Fähigkeit steht, ist eine Notwendigkeit.



#26

+4. Kapitel

ABRAHAM

Abraham gehörte zu den Menschen, die diese Kraft besaßen und von ihr geführt worden sind. Er wurde in Mesopotamien geboren und stammte aus einer Familie, die nichts von der Einheit Gottes wußte. Indem Er alle ihre Götter verwarf, geriet Er in Widerspruch zu Seinem Volk und Seinen Verwandten, ja sogar zu Seiner eigenen Familie. Er widersetzte Sich allein und ohne Hilfe einem mächtigen Stamm, was wahrlich weder leicht noch einfach ist. Es war so, als wollte heute jemand bei einem christlichen Volke, das an die Bibel glaubt, Christus verleugnen, oder Ihn - möge mir Gott verzeihen! - in der Umgebung des Papstes im Widerspruch zur Christenheit aufs heftigste schmähen.

Die damaligen Menschen glaubten nicht an einen Gott, sondern an viele Götter, denen sie Wundertätigkeit zuschrieben. Daher erhoben sich alle gegen Abraham. Außer Seinem Neffen Loth und ein oder zwei anderen einflußlosen Menschen hielt niemand zu Ihm. Schließlich mußte Er, durch den Widerstand Seiner Feinde in äußerste Bedrängnis gebracht, Seine Heimat verlassen. Vielmehr verbannten sie Ihn, um Ihn zu Grunde zu richten und jede Spur von Ihm auszulöschen.

Dann kam Abraham in das Heilige Land. Seine Feinde hatten geglaubt, daß diese Vertreibung zu Seiner Vernichtung und zu Seinem Untergang führen würde, da es unmöglich schien, daß ein Mensch, selbst wenn er ein König wäre, dem Tod oder der Unterjochung entrinnen könnte, wenn er aus seiner Heimat vertrieben, seiner Rechte beraubt und in jeder Weise unterdrückt wird. Aber Abraham hielt stand und bewies eine außergewöhnliche Beharrlichkeit. Gott ließ Seine Vertreibung zu ewiger Ehre werden, weil Er die Lehre von der Einheit Gottes inmitten eines Geschlechts begründete, das der Vielgötterei huldigte. Durch diese Verbannung wurden Seine Nachkommen mächtig und erhielten das Heilige Land geschenkt. Seine Lehren wurden verbreitet, aus Seinen Nachkommen gingen Jakob und Joseph, der Herrscher in Ägypten wurde, hervor und später Moses und Christus. Durch diese Vertreibung fand Abraham Hagar¹, und von ihr wurde Ismá'íl² geboren, aus dessen Nachkommen der Prophet Muhammad und später der Báb hervorgingen. Auch die Propheten Israels werden zu Abrahams Nachfahren gerechnet. So geht dies in alle Ewigkeit weiter. Schließlich kamen infolge Seiner Verbannung ganz Europa und der größte Teil Asiens unter den Schutz des Gottes Israels.

¹ Kebsweib Abrahams 1.Mos.16)

² Begründer einiger arabischer Stämme, der Ismá'íliten.

#27

Nun bedenke, wie groß die Kraft sein mußte, die einen Flüchtling befähigte, eine so bedeutende Familie und eine so große Religion zu begründen und solche Lehren zu verbreiten. Kann da jemand behaupten, daß dies alles ein Zufall sei? Man muß es gerecht beurteilen: war dieser Mensch ein Erzieher oder nicht?

Mit etwas Überlegung könnte man sich fragen: Wenn die Verbannung Abrahams von Ur nach Aleppo in Syrien solche Auswirkungen hatte, was muß dann die Verbannung der Gesegneten Schönheit, Bahá'u'lláh, von Tihrán nach Baghdád, von dort nach Konstantinopel, dann nach Adrianopel und schließlich ins Heilige Land zur Folge haben!

Sieh, welch ein vollendeter Erzieher Abraham war!



#28

+5. Kapitel

MOSES

Moses war lange Zeit Hirte in der Einöde. Rein äußerlich gesehen, war Er ein Mensch, der in einem tyrannischen Haushalt erzogen worden war, und die Leute wußten, daß Er einen Mord begangen hatte. Bei den Beamten und Priestern Pharaos war Er im höchsten Grade verhaßt und verabscheut.

Aber dieser Mann befreite ein großes Volk aus den Ketten der Gefangenschaft und brachte ihm Zufriedenheit. Er führte es aus Ägypten heraus und schließlich in das Heilige Land.

Dieses Volk wurde von den Tiefen der Erniedrigung zur Höhe des Ruhmes emporgehoben. Es war gefangen und wurde frei; es war das unwissendste unter den Völkern und wurde zum klügsten. Als Folge der Einrichtungen, die Moses ihm gab, erreichte es eine Stellung, die es zur Ehrenstelle unter allen Völkern berechtigte, und sein Ruf erfüllte die Welt. Dies ging so weit, daß die Nachbarvölker, wenn sie jemanden loben wollten, sagten: "Sicherlich ist er ein Jude." Moses gab die religiösen und staatlichen Gesetze, die das jüdische Volk neu belebten und es den höchsten Grad der damaligen Kultur erreichen ließen.

Es erreichte eine so hohe Entwicklungsstufe, daß die Weisen Griechenlands die berühmten Männer Israels als Muster der Vollkommenheit ansahen. Einer von diesen war Sokrates, der Syrien besuchte und von den Kindern Israels die Lehren von der Einheit Gottes und der Unsterblichkeit der Seele übernahm. Nach seiner Rückkehr verkündete er diese Lehre in Griechenland. Später empörten sich die Griechen gegen ihn, klagten ihn der Gottlosigkeit an, stellten ihn vor Gericht und verurteilten ihn zum Tod durch Gift.

Ein Mensch mit einer schweren Zunge, Der im Hause des Pharao aufgewachsen und unter den Leuten als Mörder verrufen war, Der sich lange aus Furcht verborgen halten mußte und darum Hirte geworden war, - wie konnte solch ein Mann ein so gewaltiges Werk errichten, während die größten Philosophen der Erde nicht ein Tausendstel solchen Einflusses erkennen ließen? Sicherlich ist dies ein Wunder.

#29

Einem Mann, Der stotterte und unfähig war, eine richtige Unterhaltung zu führen, gelang es, einen so großen Glauben zu verkünden! Ohne göttlichen Beistand hätte Er niemals dieses große Werk vollbringen können. Dies sind die Tatsachen, die niemand leugnen kann. Wissenschaftler, die Philosophen Griechenlands und die großen Römer wurden weltberühmt, obwohl jeder von ihnen nur einen Wissenszweig beherrschte. So errangen zum Beispiel Galenus¹ und Hippokrates² in der Heilkunde, Aristoteles³ in der Logik und Beweisführung, Plato(4) in der Ethik und Theologie eine große Berühmtheit. Wie war es möglich, daß ein Hirte all dieses Wissen begründen konnte? Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Er von einer allgewaltigen Macht unterstützt war.

Überlege, wie viele Prüfungen und Schwierigkeiten über die Menschen kommen. Moses hatte, um eine Grausamkeit zu verhindern, einen Ägypter erschlagen und war unter dem Volk als Mörder verrufen, um so mehr, als der Getötete dem Herrschervolk angehörte. Dennoch wurde Er nach Seiner Flucht zum Offenbarer auserwählt!

Trotz Seines schlechten Rufs, wie wunderbar wurde Er durch eine überirdische Macht geführt, als Er Seine großen Einrichtungen und Gesetze begründete!

¹ Galenus war ein römischer Arzt, der die antike Heilkunde in ein logisch durchdachte System brachte. Er lebte 129-199 n.Chr.

² Hippokrates (ca. 460-377 v.Chr.), ein griechischer Arzt, begründete die eigentliche wissenschaftliche ärztliche Kunst.

³ Aristoteles (384-322 v.Chr.) war ein berühmter griechischer Philosoph.

(4) Plato (417-347 v.Chr.) war ein Schüler des Sokrates und ein bekannter Philosoph in Griechenland.



#30

+6. Kapitel

CHRISTUS

Später erschien Christus und sprach: "Ich bin vom Heiligen Geiste geboren." Wenn es auch heute für die Christen leicht ist, dies zu glauben, so war es doch zu jener Zeit sehr schwer, und wir hören aus dem Neuen Testament, daß die Pharisäer einwandten: "Ist dies nicht der Sohn des Joseph von Nazareth, den wir kennen, wie kann er sagen 'Ich bin vom Himmel gekommen'?"

Obwohl Er, äußerlich gesehen und in den Augen aller, aus niedrigem Stande war, erhob Er Sich mit solcher Macht, daß Er religiöse Gesetze, die fünfzehnhundert Jahre bestanden hatten, abschaffte, obgleich jeder, der sich der kleinsten Übertretung schuldig machte, in größte Gefahr geriet und sein Leben aufs Spiel setzte. Ja, noch mehr: Zu Christi Zeit waren das sittliche Verhalten der ganzen Welt und der Zustand der Kinder Israel völlig verdorben und zerrüttet, und die Stämme Israels befanden sich in tiefer Erniedrigung, Knechtschaft und Not. Sie fielen in die Gefangenschaft der Chaldäer¹ und Perser, wurden ein anderes Mal von den Assyrern versklavt, dann wieder zu Untertanen und Vasallen der Griechen. Als Christus kam, wurden sie von den Römern beherrscht und verachtet.

¹ Ein aramäischer Volksstamm, der seit 1000 v.Chr. in Babylon ansässig war. Nebukadnezar war der berühmteste Vertreter der chaldäischen Dynastie.

Christus hob als junger Mensch mit Hilfe einer überirdischen Macht das alte mosaische Gesetz auf, verbesserte das allgemeine sittliche Verhalten und legte zum zweiten Male den Grund zum ewigen Ruhm für das Volk Israel. Darüber hinaus brachte Er der Menschheit allgemeinen Frieden und verkündete Lehren, die nicht nur für das Volk Israel bestimmt waren, sondern die Grundlage für das allumfassende Glück der menschlichen Gemeinschaft bildeten.

#30

Die ersten, die sich erhoben, um Ihn zu vernichten, waren die Israeliten, Sein eigener Stamm. Rein äußerlich gesehen, überwältigten sie Ihn und stürzten Ihn in tiefste Erniedrigung. Schließlich setzten sie Ihm die Dornenkrone aufs Haupt und kreuzigten Ihn. Aber Christus verkündete in der Stunde Seiner scheinbar höchsten Not und Trübsal: "Diese Sonne wird strahlen, dieses Licht wird scheinen, und Meine Gnade wird die Welt umfassen, und alle Meine Feinde werden erniedrigt sein." Was Er gesagt hatte, ging in Erfüllung. Alle Könige der Welt haben Ihm nicht widerstehen können, ja mehr noch, die Banner aller Könige gingen unter, das Banner jenes Unterdrückten aber wurde zum Gipfelpunkt erhoben.

Dies widerspricht völlig aller menschlichen Vernunft. Damit ist klar und deutlich erwiesen, daß dieses strahlende Wesen als wahrhafter Erzieher des Menschengeschlechtes von Gottes Macht getragen und bestätigt worden ist.



#32

+7. Kapitel

MUHAMMAD

Nun zu Muhammad. Die Menschen in Europa und Amerika haben viele Geschichten über Muhammad gehört und halten sie für wahr, obwohl die Meinung der Erzähler oft durch Unwissenheit oder Haß getrübt war. Die meisten von ihnen waren christliche Priester. Auch ungebildete Anhänger des Islam haben unbegründete Überlieferungen über Muhammad verbreitet und vermeint, Ihn damit zu preisen.

So wurde Seine Mehrehe von unwissenden Muhammadanern zum Mittelpunkt ihrer Lobsprüche gemacht. Sie betrachteten sie als etwas Wunderbares und behaupteten, daß sie etwas Besonderes sei. Die meisten europäischen Geschichtsschreiber stützen sich auf die Aussagen jener Toren.

Zum Beispiel hat solch ein Törichter einem christlichen Priester erzählt: "Das Zeichen der Größe ist Tapferkeit und Blutvergießen; ein Gefährte Muhammads hat an einem Tage auf dem Schlachtfeld hundert Männern den Kopf abgeschlagen." Daraus folgerte dieser Geistliche, daß das Töten als Mittel angesehen wird, seinen Glauben an Muhammad zu beweisen, was reine Einbildung ist. Die militärischen Unternehmungen Muhammads waren im Gegenteil immer Verteidigungskriege. Ein Beweis hierfür ist, daß während dreizehn Jahren in Mekka Er und Seine Jünger die heftigsten Verfolgungen erduldeten. Sie waren in dieser Zeit das Ziel für die Pfeile des Hasses. Einige Seiner Gefährten wurden getötet und ihres Vermögens beraubt, andere flohen in fremde Länder. Muhammad Selbst floh mitten in der Nacht nach Medina, nachdem die Quraischiten¹, die Ihn bis zum äußersten verfolgt hatten, entschlossen waren, Ihn zu ermorden. Jedoch auch dann ließen Seine Feinde nicht ab, sondern verfolgten Ihn bis nach Medina und Seine Jünger sogar bis Abessinien.

¹ Ein arabischer Stamm, der z.Z. Muhammads in Mekka seinen Wohnsitz hatte und dem auch der Offenbarer angehörte.

#33

Diese arabischen Stämme standen auf der tiefsten Stufe der Barbarei und Rohheit. Mit ihnen verglichen, waren die Wilden und die unzivilisierten Indianer Amerikas entwickelt wie ein Platon. Denn die amerikanischen Wilden begruben nicht ihre Kinder lebendig, wie es diese Araber mit ihren Töchtern taten, wobei sie noch wie auf eine edle Tat stolz darauf waren¹. So sagten viele Männer drohend zu ihren Frauen: "Wenn du eine Tochter zur Welt bringst, töte ich dich." Selbst bis auf den heutigen Tag bedauern es die Araber, wenn ihnen ein Mädchen geboren wird. Ferner, wenn ein Mann wollte, konnte er sich tausend Frauen nehmen, und die meisten Männer hatten über zehn Frauen in ihrem Haushalt. Wenn diese Stämme Krieg machten, nahm der siegreiche die Frauen und Kinder des unterworfenen Stammes gefangen und behandelte sie wie Sklaven.

¹ Die Baní-Tamín, einer der wildesten arabischen Stämme, übten diese grausame Sitte aus.

Starb ein Mann, der zehn Frauen gehabt hatte, nahmen die Söhne Besitz von ihren gegenseitigen Müttern. Und wenn ein Sohn seinen Mantel über eine Frau seines Vaters geworfen und ausgerufen hatte "Diese Frau ist mein gesetzliches Eigentum", wurde die unglückliche Frau sofort seine Gefangene und Sklavin. Er konnte mit ihr anfangen, was er wollte. Er konnte sie töten, in einer Grube gefangen halten oder sie schlagen, verwünschen und mißhandeln, bis der Tod sie erlöste. Nach arabischem Brauch war er ihr Herr. Augenscheinlich müssen Bosheit, Eifersucht, Haß und Feindschaft zwischen den Frauen und Kindern eines Haushalts geherrscht haben, und es ist deshalb nicht nötig, sich weiter über diesen Gegenstand auszulassen. Bedenke noch einmal, wie die Stellung und das Leben dieser unterdrückten Frauen waren! Darüber hinaus lebten diese arabischen Stämme von Plünderung und Raub, so daß sie dauernd durch Kampf und Krieg in Anspruch genommen waren, einander töteten, Hab und Gut gegenseitig plünderten und verwüsteten, Frauen und Kinder gefangennahmen und an Fremde verkauften. Wie oft geschah es, daß Töchter und Söhne eines Fürsten, die ihre Tage zu Nächten der Gefallsucht und des größten Luxus gemacht hatten, ihre Nächte in Morgen schrecklicher Schmach, Armut und Gefangenschaft verwandelt sahen¹. Gestern waren sie Fürsten gewesen, heute Gefangene; gestern große Damen, heute Sklavinnen.

¹ Im Persischen: " ... eines Fürsten den Tag in Anmut und Reichtum verbrachten, der nächste Morgen aber brachte ihnen schreckliche Schmach ..."

#34

Unter diesen Stämmen war Muhammad groß geworden. Nachdem Er dreizehn Jahre der Verfolgung durch sie ausgehalten hatte, floh Er¹. Aber diese Menschen hörten nicht mit der Bedrückung auf. Sie vereinigten sich, um Ihn und alle Seine Anhänger auszurotten. Unter solchen Umständen war Muhammad gezwungen, zu den Waffen zu greifen. Das ist die Wahrheit. Wir sind persönlich nicht blindgläubig und wollen Ihn auch nicht in Schutz nehmen, aber wir sind gerecht und sagen, was richtig ist. Betrachte es in Gerechtigkeit. Wenn Christus Selbst unter derartigen Umständen zu solch tyrannischen und barbarischen Stämmen gesandt worden wäre, und wenn Er dreizehn Jahre lang in Geduld mit Seinen Jüngern alle diese Prüfungen ertragen hätte, die in der Flucht aus Seiner Heimat gipfelten - wenn diese gesetzlosen Stämme Ihn weiterhin verfolgt hätten, um die Männer zu töten, Hab und Gut zu plündern und Frauen und Kinder gefangenzunehmen, wie hätte Sich Christus ihnen gegenüber verhalten? Hätte diese Unterdrückung Ihm allein gegolten, hätte Er ihnen verziehen, was im höchsten Maß anerkennenswert gewesen wäre. Aber wenn Er gesehen hätte, daß diese grausamen und blutdürstigen Mörder die Unterdrückten quälen, überfallen und töten und die Frauen und Kinder gefangennehmen, so würde Er sie zweifellos beschützt und Sich der Bedrücker erwehrt haben. Was kann man demnach Muhammad vorwerfen? Etwa, daß Er Sich nicht mit Seinen Gefährten, ihren Frauen und Kindern den gottlosen Stämmen unterwarf? Diese Volksstämme von ihrem Blutdurst zu heilen, war höchste Güte, und Zwang und Widerstand gegen sie die reinste Gnade. Sie glichen einem Menschen, der einen Giftbecher in der Hand hält und gerne daraus trinken will, dem aber ein Freund den Becher aus der Hand schlägt und so das Leben rettet. Wenn Christus in dieser Lage gewesen wäre, hätte Er bestimmt mit siegreicher Macht die Männer, Frauen und Kinder aus den Krallen dieser blutdürstigen Wölfe befreit.

¹ nach Medina

#35

Muhammad hat nie die Christen bekämpft, sondern große Rücksichten auf sie genommen und ihnen volle Freiheit gelassen. In Najrán lebte eine Christengemeinde, die Seiner Sorge und Führung unterstand. Er sagte: "Jeder, der ihre Rechte mißachtet, ist Mein Feind, und Ich werde bei Gott Klage gegen ihn erheben." Die Verordnungen, die darüber niedergeschrieben wurden, drücken dies ganz klar aus: "Leben, Gut und Gesetze der Christen und Juden stehen unter dem Schutze Gottes. Wenn ein Muslim eine christliche Frau heiratet, so darf er sie nicht daran hindern, in die Kirche zu gehen, und darf sie nicht zwingen, den Schleier zu tragen; wenn sie stirbt, soll er ihr Begräbnis einem christlichen Priester überlassen. Wenn die Christen eine Kirche bauen wollen, sollen die Muhammadaner ihnen helfen. Wenn die Muhammadaner gegen ihre Feinde Krieg führen, sollen die Christen vom Kriegsdienst befreit sein, außer wenn es ihr eigener Wunsch ist, daran teilzunehmen, um dem Islam zu helfen. Als Gegenleistung für dieses Privileg sollen sie jährlich eine kleine Summe bezahlen." Kurz gesagt, es gibt sieben ausführliche Edikte zu dieser Frage, von denen einige bis heute in Jerusalem aufbewahrt sind. So ist der wahre Sachverhalt, und nicht ich allein sage dies. Der Erlaß des zweiten Kalifats¹ befindet sich noch heute in der Obhut des orthodoxen Patriarchen von Jerusalem, und es kann kein Zweifel darüber bestehen².

¹ 'Umar

² Vgl. das Buch von Jurji Zaydan "Umayyads and Abbasids", übersetzt von D.S. Margoliouth (engl.)

Dennoch entstanden mit der Zeit zwischen den Muhammadanern und den Christen Haß und Feindschaft, weil beide ihre Rechte überschritten. Unabhängig von dieser Tatsache sind alle die Erzählungen der Muhammadaner, Christen und anderer einfach Erdichtungen, die ihren Ursprung in Fanatismus oder Unwissenheit haben, außer wenn sie aus Feindschaft entstanden sind.

Zum Beispiel sagen die Muhammadaner, daß Muhammad den Mond gespalten habe und dieser auf den Berg bei Mekka gefallen sei. Sie glauben, daß der Mond ein kleiner Körper sei, den Muhammad in zwei Teile zerschlagen und von dem Er einen Teil auf diesen Berg und den anderen auf jenen geworfen habe.

Solche Geschichten entstanden aus reinem Fanatismus. Auch die mündlichen Überlieferungen der Geistlichen und die Vorfälle, die sie tadeln, sind alle übertrieben oder ganz ohne Grundlage.

#36

Kurz gesagt: Muhammad erschien in der Wüste Hijáz, auf der arabischen Halbinsel, einer trostlosen, unfruchtbaren, sandigen und spärlich bevölkerten Einöde. Einige Orte, wie Mekka und Medina, sind übermäßig heiß. Die Bewohner sind Nomaden mit den Sitten und Gebräuchen der Wüstenbewohner und bar jedes Wissens und jeder Bildung. Muhammad Selbst war ungelehrt, und der Qur'án war ursprünglich auf Schafschulterknochen und Palmblätter geschrieben. Aus diesen Hinweisen kann man die Lage des Volkes, zu dem Er gesandt worden ist, ermessen. Die erste Frage, die Er ihnen stellte, war: "Warum nehmt ihr nicht das Alte Testament¹ und die Evangelien an, und warum glaubt ihr nicht an Christus und Moses?" Diese Worte kamen sie hart an, und sie erwiderten: "Unsere Vorfahren haben doch auch nicht an das Alte Testament und die Evangelien geglaubt - wie kam das?" Er antwortete ihnen: "Sie waren Verirrte, ihr müßt euch von Menschen, die nicht an das Alte Testament und die Evangelien glauben, lossagen, selbst wenn diese eure Väter und Ahnen waren."

¹ Wörtlich: Pentateuch

In einem solchen Land und unter so wilden Stämmen brachte ein ungelehrter Mann ein Buch hervor, in dem Er in vollkommenem und ausdrucksvollem Stil die göttlichen Eigenschaften und Vollkommenheiten, die Prophetenschaft der Gottesgesandten, die göttlichen Gesetze und wissenschaftlichen Tatsachen erklärte.

So weißt du, daß vor den Entdeckungen der neueren Zeit, also von den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung bis zum fünfzehnten Jahrhundert, alle Gelehrten der Welt sich in ihrer Meinung über die zentrale Stellung der Erde und die Bewegung der Sonne um die Erde einig waren. Erst jener bahnbrechende Astronom¹ legte den Grund zu einer neuen Theorie, durch die die Bewegung der Erde und die Unbeweglichkeit der Sonne entdeckt wurden. Bis dahin hatten alle Astronomen und Philosophen der Welt an den ptolemäischen Lehrsatz geglaubt, und jeder, der ein Wort gegen diese Regel gesagt hätte, wäre für unwissend gehalten worden.

¹ Kopernikus 1473-1543

#37

Obwohl Pythagoras¹, und Platon während der letzten Zeit seines Lebens, sich die Theorie zu eigen machten, daß die jährliche Bewegung der Sonne durch den Tierkreis nicht von der Sonne, sondern von der Bewegung der Erde um die Sonne herrühre, geriet diese Auffassung völlig in Vergessenheit, und das ptolemäische System stand für alle Mathematiker fest. Im Qur'án aber sind Verse geoffenbart, die der Theorie des ptolemäischen Systems widersprechen. Einer von ihnen lautet: "Die Sonne bewegt sich an einem feststehenden Ort."² Dies zeigt das Feststehen der Sonne und ihre Bewegung um eine Achse. Und an anderer Stelle: "Und jeder Stern bewegt sich in seinem eigenen Himmelskreis."³ Damit ist die Bewegung von Sonne und Mond, von der Erde und den anderen Himmelskörpern klar beschrieben. Als der Qur'án erschien, verspotteten alle Mathematiker diese Sprüche, die sie für Dummheit hielten. Sogar die Muhammadanischen Gelehrten waren gezwungen, diese Verse als unerklärbar abzutun, als sie sahen, daß sie dem anerkannten ptolemäischen System widersprachen.

¹ Pythagoras, griechischer Philosoph, starb angeblich 497/497 v.Chr.

² Qur'án, Súrih 36:38 ³ Súrih 36:40

Es war nicht vor dem sechzehnten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung, beinahe neunhundert Jahre nach Muhammad, daß ein berühmter Astronom¹ mit Hilfe des von ihm erfundenen Fernrohrs neue Beobachtungen und wichtige Entdeckungen machte. Die Bewegung der Erde, das Feststehen der Sonne und auch ihre Drehung um eine Achse wurden entdeckt. So ist es klar, daß die Verse des Qur'án den Tatsachen entsprechen und daß das ptolemäische System auf einem Irrtum beruhte.

¹ Galilei, 1564-1642

Kurz, viele orientalische Völker wurden dreizehn Jahrhunderte lang im Schutze der Religion Muhammads erzogen. Im Mittelalter, als Europa auf der tiefsten Stufe der Barbarei stand, waren die arabischen Völker in den Geisteswissenschaften, in Mathematik, Kultur, politischer Ordnung und anderen Wissenschaften allen anderen Völkern der Erde überlegen. Die bewegende Kraft und der Erzieher dieser Nomadenstämme, der Begründer von Kultur und menschlicher Vervollkommnung unter diesen verschiedenen Volksstämmen war ein ungelehrter Mann, Muhammad. War dieser erhabene Mann ein vollkommener Erzieher oder nicht? Laßt unser Urteil gerecht sein.



#38

+8. Kapitel

DER BÁB

Der Báb¹ - möge Meine Seele ein Opfer für ihn sein - erhob Sich bereits in jugendlichem Alter in Seiner Sache, im fünfundzwanzigsten Jahr Seines gesegneten Lebens. Unter den Schiiten ist allgemein bekannt, daß der Báb weder eine Schule besucht noch bei irgend jemandem wissenschaftliche Kenntnisse erworben hat - alle Leute von Shiráz können dies bezeugen. Dennoch erschien Er plötzlich mit größtem Wissen unter den Menschen, obwohl Er nur Kaufmann war, verwirrte Er alle 'Ulamá² von Persien. Ganz allein behauptete Er Seine Sache in einer unvorstellbaren Weise gegen die Perser, deren religiöser Fanatismus allgemein bekannt ist. Diese erhabene Seele erhob Sich mit solcher Kraft, daß sie die Stützen der Religion und Moral, die Zustände, Sitten und Gebräuche Persiens ins Wanken brachte, stattdessen ein neues Gesetz und neue Vorschriften einsetzte und eine neue Religion schuf, obgleich die Spitzen der Regierung, beinahe die gesamte Geistlichkeit und die Leute der Öffentlichkeit sich erhoben, um ihn zu vernichten und zu töten, hielt Er ihnen allein stand und brachte ganz Persien in Aufruhr.

¹ Der Báb wird hier mit seinem Titel Hadrat-i-'Alá', Seine Oberste Hoheit, bezeichnet, zur Bequemlichkeit des Lesers werden wir Ihn jedoch auch weiter mit dem Namen Báb betiteln, unter dem Er in ganz Europa bekannt ist.

² Schriftgelehrte des Islam.

Viele 'Ulamá und Leute der Öffentlichkeit wie auch andere opferten freudig ihr Leben für Seine Sache und eilten zur Stufe des Märtyrertums.

Die Regierung, das Volk, die Religionsgelehrten und hochgestellten Persönlichkeiten versuchten vergeblich, Seine Fackel auszulöschen. Schließlich wurde Seine Bedeutung offenbar, Sein Stern begann zu leuchten, die von ihm geschaffenen Grundlagen festigten sich, und Seine Morgenröte wurde zum strahlenden Licht. Er verlieh göttliche Erziehung und beeinflußte in wunderbarer Weise das Denken, die Moral und die Lebensart der Perser. Er verkündete Seinen Anhängern die frohe Botschaft vom baldigen Aufgang der Sonne Bahás und bereitete sie auf den neuen Glauben vor.

#39

Das Erscheinen so wunderbarer Zeichen und großer Taten, die Einflußnahme auf das allgemeine Denken und die herrschenden Meinungen, die Errichtung der Grundlage für Fortschritt und die Gestaltung der Voraussetzungen für Erfolg und Glück durch einen jungen Kaufmann sind die besten Beweise dafür, daß Er ein vollkommener Erzieher war. Kein gerechter Mensch wird zögern, dies zu glauben.



#40

+9. Kapitel

BAHÁ'U'LLÁH

Bahá'u'lláh¹ erschien zu einer Zeit, da das persische Reich in große Dunkelheit und Unwissenheit herabgesunken und in blindestem Fanatismus verloren war.

¹ Hier wird Bahá'u'lláh der Titel Jamál-i-Mubárak, die gesegnete Schönheit, gegeben, Er wird auch Jamál-i-Quidam, die Ewige oder Altehrwürdige Schönheit, genannt. Aber wir werden Ihn als Bahá'u'lláh bezeichnen, da Er so im Westen bekannt ist.

Sicher hast du in europäischen Geschichtswerken ausführliche Berichte über die Moral, die Sitten und Denkweisen der Perser während der letzten Jahrhunderte gelesen, und Ich brauche deshalb nicht noch einmal darauf einzugehen. Kurz gesagt, Persien war in ein solches Verfallstadium getreten, daß alle ausländischen Besucher ihr Bedauern über den Zustand dieses Landes ausdrückten, das in früheren Zeiten auf der höchsten Kulturstufe gestanden hatte und nun so heruntergekommen, verwüstet und in Unordnung war.

In einer solchen Zeit erschien Bahá'u'lláh. Sein Vater war Minister, kein Theologe. Alle Bewohner Persiens wissen, daß Er Sein Wissen nicht in einer Schule erworben und daß Er mit den Theologen und Gelehrten keinen Umgang hatte. Der Anfang Seines Lebens war in größter Glückseligkeit verlaufen. Seine Gefährten und Gesellschafter waren Perser der höchsten Klasse, aber keine Gelehrten.

Als Sich der Báb offenbarte, sagte Bahá'u'lláh: "Dieser große Mann ist der Herr der Gerechten, und allen obliegt es, an ihn zu glauben." Er erhob Sich, dem Báb zu helfen, und gab viele Beweise und sichere Zeugnisse für die Wahrheit des Báb, obgleich die 'Ulamá der Staatsreligion die persische Regierung gedrängt hatten, ihn zu bekämpfen und Ihm Widerstand zu leisten, und außerdem Erlasse veröffentlicht hatten, die Mord, Plünderung, Verfolgung und Ausstoßung Seiner Anhänger verfügten. Im ganzen Land begann man, die Bekehrten zu töten, zu verbrennen und auszuplündern und sogar ihre Frauen und Kinder anzufallen.

#41

Trotz alledem stand Bahá'u'lláh auf, um das Wort des Báb mit größter Festigkeit und Kraft zu verkünden. Nicht für einen Augenblick verbarg Er Sich, offen verkehrte Er mit Seinen Feinden. Er war bemüht, Zeugnisse und Beweise zu geben, und wurde als der Verkünder des Wortes Gottes berühmt. Oft und oft hatte Er heftige Leiden zu ertragen, und jeden Augenblick stand Er in Gefahr des Märtyrertodes.

Er wurde in Ketten gelegt und unter der Erde gefangengehalten. Seine großen ererbten Güter wurden geplündert und enteignet. Viermal verbannte man ihn, bis Er schließlich im Größten Gefängnis¹ eine bleibende Stätte fand.

¹ Zuerst nach Baghdád verbannt, dann nach Konstantinopel und Adrianopel, wurde Er 1869 in 'Akká, dem Größten Gefängnis, eingekerkert.

Dennoch hörte Er für keinen Augenblick auf, die Größe der Gottessache zu verkünden. Er zeigte solche Tugend und Vollkommenheit und ein solches Wissen, daß Er für die Leute in Persien zum Wunder wurde. Dies war so stark, daß in Tihrán, Baghdád, Konstantinopel, Rumelien und sogar in 'Akká jeder Wissenschaftler und Gelehrte, gleichviel ob Freund oder Feind, der zu ihm kam, auf jede gestellte Frage eine überzeugende und befriedigende Antwort erhielt. Alle Menschen bekannten, daß dieser Mann einzig und in Seiner ganzen Vollkommenheit unvergleichlich sei.

In Baghdád geschah es oft, daß muhammadanische 'Ulamá, jüdische Rabbiner und Christen mit europäischen Gelehrten in gesegneter Versammlung zusammenkamen. Jeder einzelne stellte eine Frage, und trotz der Verschiedenheit ihres Kulturkreises erhielten alle eine ausreichende und überzeugende Antwort und gingen zufriedengestellt fort. Sogar die persischen 'Ulamá aus Karbilá und Najaf wählten einen Gelehrten zu ihrem Abgesandten, der Mullá Hasan 'Ammu hieß. Er kam in die Gesegnete Gegenwart und stellte im Namen der 'Ulamá einige Fragen, die Bahá'u'lláh beantwortete. Dann sagte Hasan 'Ammu: "Die 'Ulamá anerkennen ohne Zögern und bekennen das Wissen und die Größe Bahá'u'lláhs, und sie sind einmütig überzeugt, daß in allen Wissenschaften niemand ihm ähnlich und ebenbürtig ist; auch ist es allgemein bekannt, daß Er niemals studiert oder dieses Wissen erworben hat." Dennoch sagten die 'Ulamá: "Wir können uns damit nicht zufrieden geben, die Wahrheit Seiner Sendung anerkennen wir nicht nur Seiner Weisheit und Rechtschaffenheit wegen. Wir bitten Ihn daher, uns ein Wunder zu zeigen, damit unsere Herzen zufriedengestellt und beruhigt werden."

#42

Bahá'u'lláh antwortete: "Obwohl ihr kein Recht dazu habt, denn es steht Gott zu, die Geschöpfe zu prüfen, nicht aber den Geschöpfen, Gott auf die Probe zu stellen, sei diese Bitte angenommen und erfüllt. Aber die Sache Gottes ist keine Theateraufführung, die jederzeit gezeigt wird und von der man täglich neuen Zeitvertreib verlangt. Wenn es so wäre, würde die Sache Gottes bloßes Kinderspiel werden.

Die 'Ulamá müssen deshalb zusammenkommen und gemeinsam ein Wunder auswählen und niederschreiben, daß sie nach Eintreten des Wunders nicht länger an Mir zweifeln und alle die Wahrheit Meiner Sache zugeben und anerkennen werden. Dieses Schriftstück sollen sie versiegeln und Mir bringen. Und folgendes soll der gültige Maßstab sein: Erscheint das Wunder, so werdet ihr keinen Zweifel mehr hegen, erscheint es nicht, werden Wir des Betrugs für schuldig erklärt." Der Gelehrte, Hasan 'Ammu, erhob sich und antwortete: "Es bleibt mir nichts mehr zu sagen." Er küßte dann das Knie des Gesegneten, obgleich er kein Gläubiger war, und ging. Er versammelte die 'Ulamá und überbrachte ihnen die heilige Botschaft. Sie beratschlagten miteinander und sagten: "Dieser Mann ist ein Zauberer, vielleicht vollbringt er einen Zauber, und dann können wir nichts mehr sagen." Aufgrund dieser Meinung wagten sie nicht, auf den Vorschlag einzugehen.¹

¹ Die scharfsinnige Urteilskraft Bahá'u'lláhs überwand bei dieser Gelegenheit die Bosheit seiner Feinde, die sich in der Wahl des Wunders sicherlich niemals geeinigt hätten.

Hasan 'Ammu sprach über diesen Vorfall in vielen Versammlungen. Er ging von Karbilá nach Kirmánsháh und Tihrán und verbreitete überall einen genauen Bericht, wobei er die Furcht und den Rückzug der 'Ulamá betonte.

Kurz, alle Seine Gegner im Orient gaben Seine Größe und Erhabenheit, Sein Wissen und Seine Klugheit zu, obwohl sie Seine Feinde waren, sprachen sie von Ihm immer als von dem "berühmten Bahá'u'lláh."

#43

Als dieses große Licht plötzlich am Horizont Persiens aufging, erhoben sich alle Leute, die Geistlichen, die 'Ulamá und Menschen anderer Klassen gegen ihn, verfolgten ihn mit der größten Feindseligkeit und behaupteten, "daß dieser Mann Religion, Gesetz, die Nation und das Reich unterdrücken und zerstören wolle." Das gleiche wurde von Christus gesagt. Doch allein und ohne Hilfe leistete Bahá'u'lláh allen Widerstand, ohne jemals die leiseste Schwäche zu zeigen. Schließlich sagten sie: "Solange dieser Mann in Persien ist, wird es keinen Frieden und keine Ruhe geben. Wir müssen ihn verbannen, damit Persien zur Ruhe kommt."

Sie gingen dazu über, Gewalt gegen ihn anzuwenden, um ihn zur Bitte, Persien verlassen zu dürfen, zu zwingen. Denn sie glaubten, daß damit das Licht Seiner Wahrheit verlöscht würde. Doch sie erreichten das Gegenteil. Die Sache wurde weiter gestärkt, und ihre Flamme loderte heller empor. War sie bis dahin nur in Persien bekannt gewesen, so führte Bahá'u'lláhs Verbannung zu ihrer Verbreitung auch in anderen Ländern. Darauf sagten Seine Feinde: "Der arabische 'Iráq¹ liegt zu nahe bei Persien, wir müssen ihn in ein entfernteres Land schicken." Darum entschloß sich die persische Regierung, Bahá'u'lláh vom 'Iráq nach Konstantinopel zu verbannen. Aber wieder zeigte es sich, daß die Sache nicht im geringsten geschwächt wurde, und von neuem sagten sich Seine Feinde: "Konstantinopel ist eine Stadt des Fremdenverkehrs für die verschiedensten Rassen und Völker, unter denen auch viele Perser sind." Deshalb verbannten sie ihn weiter nach Rumelien. Aber dort leuchtete Sein Licht noch stärker, und die Sache erhob sich weiterhin. Schließlich sagten die Perser: "Keine dieser Städte ist frei von Seinem Einfluß, wir müssen ihn an einen Ort schicken, wo Er zur Machtlosigkeit verurteilt ist, wo Seine Familie und Seine Anhänger im größten Elend leben müssen." Deshalb wählten sie das Gefängnis von 'Akká, das für Mörder, Diebe und Wegelagerer bestimmt war, und tatsächlich stellten sie ihn diesen Leuten gleich. Aber die Macht Gottes zeigte sich noch klarer, denn Sein Gefängnis wurde der Weg zur Verbreitung Seiner Lehre und zur Verkündung Seiner Botschaft. Die Größe Bahá'u'lláhs wurde da augenscheinlich, denn von diesem Gefängnis aus und unter solchen Umständen führte Er Persien auf eine höhere Entwicklungsstufe. Er überwand alle Seine Feinde und bewies ihnen, daß sie dieser Sache keinen Widerstand leisten können. Seine heiligen Lehren durchdrangen alle Regionen, und Seine Sache wurde fest begründet.

¹ Der Bezirk, in dem Baghdád liegt.

#44

Ja, in allen Teilen Persiens erhoben sich Seine Feinde in bitterstem Haß gegen Ihn und fingen, schlugen und töteten Seine Anhänger. Tausende von Wohnungen verbrannten sie und machten sie dem Boden gleich und versuchten alle Mittel, um die Sache zu unterdrücken und zu vernichten. Trotz alledem wurde sie hoch aufgerichtet, und zwar von einem Gefängnis aus, das für Mörder, Wegelagerer und Diebe bestimmt war. Seine Lehren verbreiteten sich weithin, und Seine Ermahnungen machten auf viele Seiner heftigsten Hasser solchen Eindruck, daß sie standhafte Gläubige wurden. Sogar die persische Regierung wurde aufgerüttelt und bedauerte das Übel, das durch die 'Ulamá verursacht worden war.

Als Bahá'u'lláh in dieses Gefängnis im Heiligen Lande kam, erkannten die Einsichtigen, daß die frohe Botschaft, die Gott zwei- und dreitausend Jahre vorher durch den Mund der Propheten verkünden ließ, sich verwirklicht und daß Gott Sein Versprechen erfüllt hatte. Denn mehreren Propheten hatte Er Sich geoffenbart und die gute Nachricht gegeben, daß "der Herr der Heerscharen im Heiligen Land geoffenbart würde". Alle diese Prophezeiungen wurden erfüllt, und wenn diese Verfolgungen durch Seine Feinde, Seine Vertreibung und Verbannung nicht gewesen wären, könnte man sich nicht vorstellen, wie Bahá'u'lláh hätte gezwungen werden können, Persien zu verlassen und in diesem Heiligen Land Sein Zelt aufzuschlagen. Die Absicht der Feinde war, durch Seine Gefangenschaft die Heilige Sache zu zerstören und zu vernichten, trotzdem wurde dieses Gefängnis zur größten Hilfe und zur Ursache ihrer Verbreitung. Der göttliche Ruf Bahá'u'lláhs drang zum Osten und Westen, und die Strahlen der Sonne der Wahrheit erhellten die ganze Welt. Gelobt sei Gott! Obwohl Er ein Gefangener war, wurde Sein Zelt auf dem Berge Karma aufgeschlagen, und Er bewegte Sich mit größter Majestät. Jeder, ob Freund oder Fremder, dem die Ehre widerfuhr, in Seine Gegenwart zu gelangen, sagte: "Dies ist ein Herrscher und kein Gefangener."

#45

Bald nach der Ankunft in diesem Gefängnis schrieb Er eine Botschaft an Napoleon¹, die Er durch den französischen Gesandten schickte. Ihr Hauptpunkt lautete: "Erkundige dich, welches Unser Verbrechen ist, und warum Wir in diesem Gefängnis eingekerkert sind." Napoleon gab keine Antwort. Dann wurde ein zweites Schreiben gesandt, dessen Wortlaut in das Buch Súratu'l-Haykal aufgenommen wurde". Der Inhalt in Kürze: "O Napoleon, weil du nicht auf Meinen Ruf gehört und keine Antwort gegeben hast, wird dir bald deine Herrschaft genommen, und du selbst wirst vernichtet werden." Dieses Sendschreiben wurde durch Vermittlung von Cesar Ketafagu³ mit der Post an Napoleon geschickt, was allen Gefährten Seiner Verbannung bekannt war. Abschriften dieses Briefes wurden rasch in ganz Persien verbreitet, denn das Buch Haykal war damals in Umlauf und das Sendschreiben in ihm enthalten. Dies geschah im Jahre 1869, und weil das Buch Haykal in Persien und Indien verbreitet und in den Händen aller Gläubigen war, wurde die Erfüllung der Prophezeiung, die in diesem Brief enthalten war, zuversichtlich erwartet. Nicht lange danach, im Jahre 1870 brach der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich aus. obwohl damals niemand an den Sieg Deutschlands geglaubt hatte, erlitt Napoleon eine völlige Niederlage; er mußte sich dem Feinde ergeben, und seine Größe verwandelte sich in tiefste Erniedrigung.

¹ Napoleon III.

² Ein Werk Bahá'u'lláhs, das nach Seiner Erklärung geschrieben wurde.

³ Sohn eines französischen Konsuls in Syrien, zu dem Bahá'u'lláh freundschaftliche Beziehungen hatte.

In gleicher Weise wurden Sendschreiben an andere Regenten geschickt, darunter eine Botschaft an Násiri'd-Dín Sháh. In ihr schrieb Bahá'u'lláh: "Lasse Mich zu dir kommen, versammle die 'Ulamá und fordere Beweise und Argumente, damit Wahrheit und Irrtum offenbar werden." Násiri'd-Dín Sháh schickte die gesegnete Botschaft zu den 'Ulamá und schlug ihnen vor, dies auszuführen. Sie wagten es aber nicht. Dann forderte er sieben der Berühmtesten unter ihnen auf, eine Antwort auf die Herausforderung zu schreiben. Nach einiger Zeit gaben sie den gesegneten Brief mit den Worten zurück: "Dieser Mann ist ein Feind der Religion und ein Gegner des Sháhs." Der Sháh von Persien wurde sehr ärgerlich und sagte: "Dies ist eine Frage des Beweises und der Begründung, der Wahrheit und des Irrtums; was hat sie mit Politik zu tun? Wie bedauerlich, daß wir so viel Rücksicht auf diese 'Ulamá genommen haben, die diesen Brief nicht einmal erwidern können."

#46

Kurz, alles, was in den Botschaften an die Herrscher vorausgesagt ward, ist genau eingetroffen. Wenn wir es mit den tatsächlichen Ereignissen seit dem Jahre 1870 vergleichen, finden wir, daß beinahe jede Prophezeiung sich erfüllt hat; nur wenige Ereignisse bleiben, die später noch sichtbar werden.

Auch fremde Völker und Sekten, die nicht an Ihn glaubten, schrieben Bahá'u'lláh große Dinge zu: Manche glaubten, daß Er ein Heiliger sei, und einige schrieben sogar über Ihn. Einer von ihnen, Siyyid Dávúd, ein sunnitischer Gelehrter in Baghdád, verfaßte eine kurze Abhandlung, in welcher er über einige übernatürliche Begebenheiten berichtet. Bis heute gibt es überall im Orient Menschen, die zwar Seine Offenbarung nicht anerkennen, aber trotzdem glauben, daß Er ein Heiliger war und Wunder getan habe.

Zusammengefaßt, Seine Gegner und Seine Freunde sowie alle diejenigen, die am heiligen Ort Seiner Gegenwart empfangen wurden, anerkannten und bezeugten die Größe Bahá'u'lláhs. Auch wenn sie nicht an ihn glaubten, anerkannten sie Seine Erhabenheit, und sobald sie zum heiligen Ort gelangten, übte die Gegenwart Bahá'u'lláhs eine solche Wirkung auf die meisten aus, daß sie kein Wort äußern konnten. Wie oft geschah es, daß ein haßerfüllter Mensch aus den Reihen Seiner Feinde zu Ihm kam, der sich fest vorgenommen hatte: "Wenn ich vor ihm stehe, werde ich dies und das sagen und über dies und jenes diskutieren und mit ihm streiten", - aber wenn er in Seine Heilige Gegenwart kam, wurde er bestürzt und verwirrt und brachte kein Wort heraus.

Bahá'u'lláh hatte nie Arabisch studiert, Er hatte weder Lehrer noch Meister, noch hatte Er eine Schule besucht, aber der Redefluß und die Gewähltheit Seiner gesegneten Äußerungen in Arabisch, ebenso wie Seine arabischen Schriften, verursachten Erstaunen und Verblüffung bei den vollendetsten arabischen Gelehrten. Alle anerkannten und bezeugten, daß Er unerreicht und ohnegleichen sei.

#47

Wenn wir den Text der Bibel prüfen, sehen wir, daß keiner der göttlichen Offenbarer zu denen, die ihn leugneten, sagte: "Ich bin bereit, jedes erwünschte Wunder zu erfüllen und Mich jeder Prüfung zu unterziehen." Aber im Sendschreiben an den Sháh hat Bahá'u'lláh deutlich gesagt: "Versammle die 'Ulamá und laß Mich kommen, damit Beweise und Argumente erbracht werden."¹

¹ vgl. Anm. im +8. Kapitel auf Seite 42 zu dem Wunsch der 'Ulamá nach Wunder. Wenn 'Abdu'l-Bahá diesem Beispiel der praktischen Vernunft Bahá'u'lláhs so große Wichtigkeit beimißt, will Er die Nutzlosigkeit von Wundern als Beweis für die Wahrheit der Offenbarungen Gottes betonen. Vgl. das +22. Kapitel "Über Wunder" auf Seite 105.

#47

Fünfzig Jahre lang stand Bahá'u'lláh Seinen Feinden wie ein Berg gegenüber. Alle wollten ihn verderben und vernichten. Tausendmal hatten sie beabsichtigt, ihn zugrunde zu richten und zu kreuzigen, und während dieser fünfzig Jahre war Sein Leben beständig in höchster Gefahr.

Heute¹ ist Persien auf eine so tiefe Stufe des Verfalls und Niedergangs herabgesunken, daß alle verständigen Menschen im Lande oder außerhalb, die die wirklichen Zustände kennen, sich darüber einig sind, daß Fortschritt, Kultur und Wiederaufbau Persiens von der Verbreitung der Lehren und der Entfaltung der Prinzipien dieser großen Persönlichkeit abhängen.

¹ Diese Äußerungen stammen aus dem Jahre 1904

Christus hat an Seinem gesegneten Tag in Wirklichkeit nur elf Menschen erzogen. Der größte von ihnen war Petrus, der aber, als die Prüfung über ihn kam, Christus dreimal verleugnete. Dennoch ist später die ganze Welt durch die Lehre Christi beeinflußt worden. Am gegenwärtigen Tag hat Bahá'u'lláh Tausende von Menschen erzogen, die unter der Bedrohung durch das Schwert den Ruf "Yá-Bahá'u'l-Abhá"¹ bis zum höchsten Himmel ertönen ließen, und deren Antlitz im Feuer der Prüfungen wie Gold erstrahlte. Überlege nun, was daraus in der Zukunft zu erwarten ist.

Zum Schluß müssen wir gerecht urteilen und erkennen, welch ein Erzieher dieses herrliche Wesen war, welch wunderbare Zeichen durch ihn offenbart wurden und welch eine Kraft und Macht sich durch ihn in dieser Welt gezeigt hat.

¹ Ein Ruf, der als Glaubensbekenntnis von den Bahá'í benützt wurde, wörtlich "O Herrlichkeit des Allerherrlichsten".



#48

+10. Kapitel

DURCH BEISPIELE AUS DEM BUCHE DANIEL BELEGTE BEWEISE AUS ÜBERLIEFERUNGEN

Heute wollen wir bei Tisch ein wenig über Beweise sprechen. Wenn du zu jener Zeit, da das strahlende Licht¹ erschien, in diese gesegnete Gegend und in Seine Gegenwart gekommen wärest, wenn du die leuchtende Schönheit mit eigenen Augen gesehen hättest, wäre es dir klar geworden, daß Seine Lehren und Seine Vollkommenheit keines Beweises mehr bedurften.

¹ Bahá'u'llah

Nur durch die Ehre, in Seine Gegenwart zu gelangen, wurden viele Seelen überzeugte Gläubige - sie brauchten keinen weiteren Beweis mehr. Selbst Menschen, die größten Haß gegen Ihn hegten und Ihn ablehnten, bezeugten, wenn sie Ihm begegnet waren, Seine Erhabenheit und sagten: "Dies ist ein großer Mann, wie schade, daß Er einen solchen Anspruch erhebt! Allem, was Er sonst sagt, stimmen wir zu." Aber heute, da dieses Licht der Wahrheit untergegangen ist, brauchen alle Menschen Beweise. Darum erbrachten wir logische Zeugnisse für die Wahrheit Seines Anspruches. Wir wollen noch einen solchen Beweis erwähnen, der allein genügen würde für alle, die gerecht denken, und den niemand in Abrede stellen kann: Dieses erleuchtete Wesen hat im "Größten Gefängnis"¹ Seine Sache verkündet. Von dort erstrahlte weithin Sein Licht, Sein Ruf durchdrang die Welt, und der Ruhm Seiner Größe erreichte den Osten und den Westen. Nie zuvor hat sich Ähnliches ereignet.

¹ 'Akká

Wenn es eine Gerechtigkeit gibt, wird dies zugegeben. Aber es gibt immer Menschen, die, auch wenn alle Beweise der Welt für sie beigebracht würden, doch nicht gerecht urteilen könnten.

So konnte die ganze Macht der geistlichen und weltlichen Regierung Persiens Bahá'u'lláh nichts entgegensetzen. Er hat im Gegenteil allein und ohne Hilfe, eingekerkert und unterdrückt, alles durchgeführt, was Er wollte.

#49

Ich will nicht Seine Wunder erwähnen, denn die Hörer könnten sagen, dies seien Überlieferungen, die wahr oder falsch sein können. So werden auch in den Evangelien die Wunder Christi von Seinen Jüngern und nicht von anderen berichtet, die Juden aber leugnen sie. Wollte Ich Übernatürliches von Bahá'u'lláh erzählen, so wäre viel zu berichten. Im Orient ist es bekannt, selbst bei manchen Fernstehenden. Aber diese Erzählungen sind keine vollgültigen Beweise und Zeugnisse für jedermann. Die Hörer könnten vielleicht einwenden, daß dieser Bericht nicht in Übereinstimmung mit den tatsächlichen Geschehnissen sei, denn es ist bekannt, daß auch andere Religionsgemeinschaften Wunderdinge von ihren Stiftern berichten. Zum Beispiel erzählen die Brahmanen von Wundern. Wie können wir wissen, welche wahr und welche Legende sind? Sind sie Erdichtungen, so sind es auch die anderen; sind sie verbürgte Überlieferungen, so sind es auch die übrigen. Darum sind solche Erzählungen keine zufriedenstellenden Beweise. Wohl haben sie Beweiskraft für den, der selbst dabei war, aber selbst dieser mag sie nicht als Wunder, sondern als Zauberei ansehen. Von manchen Zauberern wurden auch erstaunliche Dinge berichtet. - Was ich sagen will, ist dies: Viele wunderbare Dinge wurden von Bahá'u'lláh vollbracht, aber wir erzählen sie nicht, weil sie nicht für alle Menschen Beweiskraft haben. Sogar für die, die sie selbst gesehen haben, sind sie keine entscheidenden Beweise, denn sie mögen glauben, daß sie nur Zauber sind.

Außerdem haben die meisten Wunder der Propheten, die erzählt werden, eine gleichnishafte Bedeutung. So wird zum Beispiel in den Evangelien über das Martyrium Christi berichtet, daß eine Finsternis eintrat, die Erde erbebte, der Vorhang des Tempels von oben bis unten entzweigerissen wurde und die Toten aus den Gräbern aufstanden. Wenn sich dies alles wirklich ereignet hätte, wäre es ganz außerordentlich gewesen und sicherlich in der Geschichte jener Tage verzeichnet worden. Solche Geschehnisse hätten die Herzen gewaltig aufgerüttelt. Die Kriegsknechte hätten Christus entweder vom Kreuz herabgenommen oder sie wären davongelaufen. Diese Ereignisse werden aber in keinem Geschichtswerk erwähnt, weshalb es klar ist, daß sie nicht wörtlich zu nehmen sind, sondern eine innere Bedeutung¹ haben.

¹ Vgl. Kapitel 22 "Über Wunder", p.103

#50

Wir wollen solche Wunder nicht in Abrede stellen, sondern meinen nur, daß sie keine entscheidenden Beweise darstellen und daß sie eine geheime Bedeutung haben.

Darum wollen wir uns heute bei Tisch mit der Erklärung der überlieferten Beweise aus den Heiligen Büchern befassen. Was wir bis heute anführten, waren nur logische Beweise.

Der aufrichtige Sucher sollte so nach der Wahrheit forschen, wie die durstige Seele nach dem Wasser des Lebens dürstet, wie der Fisch nach dem Meere verlangt, wie der Kranke, der sich nach dem wahren Arzt sehnt, um göttliche Heilung zu finden, wie die verirrte Karawane, die den rechten Weg sucht, und wie das steuerlose Schiff, das die rettende Küste erreichen möchte.

Auch muß der Sucher besondere Eigenschaften besitzen. Zuerst sollte er gerecht und losgelöst sein von allem außer Gott, sein Herz sollte er ganz dem göttlichen Horizont zuwenden, und von der Bindung an Leidenschaften und Laster sollte er frei sein, denn sie alle sind Hemmnisse für ihn. Darüber hinaus muß er alle Heimsuchungen ertragen können, in größter Reinheit und Heiligkeit leben und unabhängig von Liebe und Haß gegenüber den Erdenbewohnern sein. Warum? Weil seine Liebe zu einer Seite ihn daran hindern könnte, der anderen gerecht zu werden, und ebenso könnte irgendeine Art von Haß ihn davon abhalten, die Wahrheit zu erkennen.

Dies ist die Voraussetzung für das Suchen, und der Sucher muß diese Eigenschaften und Merkmale besitzen. Solange er diese Stufe nicht erreicht, ist es für ihn unmöglich, zur Sonne der Wahrheit zu gelangen.

Wir wollen jetzt zu unserem Thema zurückkommen.

Alle Völker der Welt erwarten zwei Offenbarungen, die gleichzeitig erscheinen sollen. Alle erwarten die Erfüllung dieser Verheißung. Das Alte Testament verkündete den Juden die Wiederkunft des Herrn der Heerscharen und des Messias, im Neuen Testament wurde die Rückkehr Christi und Elias' verheißen.

Im Islám ist es die Erwartung des Mihdí und des Messias, und ebenso verhält es sich bei den Zoroastriern und anderen Religionen - wollten wir alle Einzelheiten anführen, so würde dies sehr lange dauern.

#51

Das Wesentliche ist, daß allen zwei Offenbarungen verheißen wurden, die unmittelbar aufeinander folgen sollen. Es wurde verkündet, daß durch diese beiden Offenbarungen die Welt zu einer anderen gewandelt, das Reich des Daseins erneuert und der Schöpfung ein neues Kleid geschenkt werde. Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit würden die Welt erfüllen, Feindschaft und Haß würden aufhören, und alles, was unter den Völkern, Rassen und Nationen Trennung verursache, werde verschwinden, aber was zu Einheit, Harmonie und Einigkeit führe, werde erscheinen. Die Nachlässigen würden erwachen und die Blinden sehen, die Tauben würden hören und die Stummen sprechen, die Kranken würden geheilt und die Toten lebendig werden. Krieg werde in Frieden und Feindschaft in Liebe verwandelt werden; die Ursachen des Zankes und der Streiterei würden vergehen, und die Menschheit werde wirkliches Glück gewinnen. Das irdische Reich werde zum Spiegel des Himmelreichs, die Menschheit zum Thron der Gottheit werden. Alle Völker würden zu einem Volk und alle Religionen zu einer Religion werden; das ganze Menschengeschlecht werde wie eine Familie sein und zu einem Stamm werden. Alle Gebiete der Erde würden wie ein Land sein; die Vorurteile nationaler, vaterländischer, persönlicher, sprachlicher und politischer Art würden vergehen, und unter dem Schutz des Herrn der Heerscharen würden alle ewiges Leben erlangen.

Wir müssen nun nach den Heiligen Büchern beweisen, daß diese beiden Offenbarungen gekommen sind, und wir müssen den Sinn der Prophetenworte richtig deuten; denn wir wollen Beweise haben, die aus den Heiligen Büchern abgeleitet sind.

Vor einigen Tagen erbrachten wir bei Tisch logische Beweise, die die Wirklichkeit dieser beiden Offenbarungen außer Frage stellten.

Um abzuschließen: Im Buche Daniel¹ werden vom Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem bis zum Kreuzestode Christi 70 Wochen angegeben, das heißt, durch das Martyrium Christi wird das Opfer vollendet und der Altar zerstört. Diese Prophezeiung bezieht sich auf das Erscheinen Christi. Die siebzig Wochen beginnen mit dem Wiederaufbau und der Wiederherstellung Jerusalems, worüber vier Edikte von drei Königen erlassen wurden.

¹ Kapitel 9:24

#52

Das erste stammt von Cyrus aus dem Jahre 536 v.Chr. Darüber wird im 1. Kapitel des Buches Esra berichtet. Das zweite Edikt über die bauliche Erneuerung des Tempels ist von dem Perserkönig Darius aus dem Jahre 519 v.Chr, und ist im 6. Kapitel Esra erwähnt. Das dritte Edikt wurde von Artaxerxes im siebten Jahr seiner Regierung, also 457 v.Chr. gegeben und ist im 7. Kapitel Esra verzeichnet. Das vierte erließ Artaxerxes im Jahre 444 v.Chr. Es findet sich im 2. Kapitel Nehemia.

Daniel bezieht sich nun besonders auf das dritte Edikt aus dem Jahre 457 v.Chr. 70 Wochen ergeben 490 Tage, und jeder Tag bedeutet nach dem Wortlaut der Heiligen Schrift ein Jahr. Denn es ist gesagt: "Ein Tag des Herrn ist ein Jahr."¹ 490 Tage bedeuten also 490 Jahre. Das dritte Edikt wurde von Artaxerxes im Jahre 457 vor Christi Geburt erlassen, und Christus war zur Zeit Seines Kreuzestodes und seiner Himmelfahrt 33 Jahre alt. 457 plus 33 ergibt 490, und dies ist das von Daniel prophezeite Datum für die Offenbarung Christi.

¹ 4.Mose 14:34 , Hesekiel 4:6

Im 25. Vers des 9. Kapitels Daniel steht es aber anders, nämlich 7 Wochen und 62 Wochen; scheinbar steht dies im Widerspruch zur ersten Äußerung. Viele, die versuchten, die beiden Aussagen miteinander in Einklang zu bringen, wurden durch diese Verschiedenheit verwirrt. Wie können an einer Stelle 70 Wochen und an anderer 62 und 7 Wochen richtig sein? Diese Äußerungen stimmen nicht miteinander überein.

In Wirklichkeit führt Daniel zwei Daten an. Das eine beginnt mit dem Befehl des Artaxerxes an Esra, Jerusalem wieder aufzubauen. Dies sind die 70 Wochen, die mit der Himmelfahrt Christi endeten, als mit Seinem Kreuzestod das Opfer und Speiseopfer aufhörten.

Das zweite Datum, das im 26. Vers steht, bedeutet, daß nach Beendigung des Wiederaufbaus von Jerusalem bis Christi Himmelfahrt 62 Wochen vergehen. Die 7 Wochen sind die Zeit des Tempelaufbaus, der 49 Jahre währte. Zählt man diese 7 zu den 62 Wochen, erhält man 69 Wochen, und in der letzten Woche (69-70) vollzog sich die Himmelfahrt Christi. Die 70 Wochen sind also vollständig, und es besteht kein Widerspruch mehr.

Wie das Kommen Christi festgelegt ist durch Daniels Prophezeiungen, so sind es auch die Offenbarungen Bahá'u'lláhs und des Báb. Zuvor hatten wir nur logische Beweise angeführt, jetzt werden wir Beweise nach Überlieferungen aufstellen.

#53

Im 13. Verse des 8. Kapitels im Buche Daniel heißt es: "Ich hörte aber einen Heiligen reden; und ein Heiliger sprach zu dem, der da redete: Wie lange soll doch währen solch Gesicht vom täglichen Opfer und von der Sünde, um welcher willen diese Verwüstung geschieht, daß beide, das Heiligtum und das Heer, zertreten werden? (V. 14:) Und er antwortete mir: Bis 2300 Abende und Morgen um sind; dann wird das Heiligtum wieder geweht werden. (V. 17:) Er aber sprach zu mir: ... dies Gesicht gehört in die Zeit des Endes." Also wie lange soll diese Heimsuchung, dieser Verfall, diese Erniedrigung und Demütigung dauern? Das heißt, wann wird der Morgen der Offenbarung anbrechen? Darauf sprach er: "2300 Tage; dann wird das Heiligtum wieder geweiht werden." Kurz, der Sinn dieser Stelle ist, daß er 2300 Jahre anberaumt, denn im Wortlaut der Bibel ist jeder Tag ein Jahr. Folglich sind vom Zeitpunkt des Ediktes durch Artaxerxes, der den zweiten Aufbau Jerusalems befahl, bis zum Tage der Geburt Christi 456 Jahre und von der Geburt Christi bis zum Tage der Offenbarung des Báb 1844 Jahre verstrichen. Wenn man zu dieser Zahl 456 Jahre zählt, ergeben sich 2300 Jahre. Das heißt, das Jahr 1844 n. Chr, brachte die Erfüllung der Vision Daniels, und dies ist das Jahr der Offenbarung des Báb. Sieh nun, wie klar Daniel das Jahr der Offenbarung ansetzt; klarer als hier kann eine Offenbarung nicht vorausgesagt werden.

Christus Selbst erklärt im 24. Kapitel, Vers 3, des Matthäusevangeliums, daß die Prophezeiung Daniels sich auf die Wiederkunft bezieht. Die Stelle lautet: "Und als er auf dem Ölberge saß, traten zu ihm seine Jünger besonders und sprachen: Sage uns, wann wird das geschehen? Und welches wird das Zeichen sein deiner Zukunft und des Endes der Welt?" Eine der Antworten Christi heißt (V. 15): "Wenn ihr nun sehen werdet den Greuel der Verwüstung, davon gesagt ist durch den Propheten Daniel, daß er steht an der heiligen Stätte (wer das liest, der merke darauf)." Damit verwies Er sie auf das 8. Kapitel Daniel, mit dem Hinweis, daß jeder, der es liest, verstehen wird, daß es diese fragliche Zeit ist. Sieh nun, wie klar die Offenbarung des Báb im Alten und Neuen Testament angekündigt ist.

#54

Zum Schluß wollen wir den Zeitpunkt der Offenbarung Bahá'u'lláhs aus der Bibel erklären. Bahá'u'lláhs Datum ist nach Mondjahren¹ berechnet, beginnend mit der Berufung² und der Flucht³ Muhammads; denn in der Religion Muhammads sind Mondjahre gebräuchlich, die auch allen kultischen Vorschriften zugrunde gelegt sind.

¹ Ein Mondjahr sind 354 Tage ² 609 n.Chr. ³ 622 n.Chr.(Hedschra)

Im 12. Kapitel, Vers 6, des Buches Daniel steht geschrieben: "Und er sprach zu dem in leinenen Kleidern, der über den Wassern des Flusses stand: Wann will's denn ein Ende sein mit solchen Wundern? Und ich hörte zu dem in leinenen Kleidern, der über den Wassern des Flusses stand; und er hob seine rechte und linke Hand gen Himmel und schwur bei dem, der ewiglich lebt, daß es eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit währen soll; und wenn die Zerstreuung des heiligen Volkes ein Ende hat, soll solches alles geschehen."

Ich habe die Bedeutung eines Tages in der Bibel bereits erklärt und brauche nicht darauf zurückzukommen. Es sei aber kurz erwähnt, daß jeder Tag des Vaters (d.h. "eine Zeit") ein Jahr bedeutet, und jedes Jahr hat 12 Monate. So ergeben 3 1/2 Jahre (d.h. "eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit") 42 Monate mit 1260 Tagen. Im Jahre 1260¹ nach der Hijra aber hat sich, nach muhammadanischer Zeitrechnung, der Báb, Bahá'u'lláhs Herold, geoffenbart.

¹ 1260 Mondjahre sind 1222 Jahre christlicher Zeitrechnung. Also 1222 plus 622 (Hedschra) ergibt 1844 n.Chr.

Danach, im 11. Vers heißt es bei Daniel: "Und von der Zeit an, wenn das tägliche Opfer abgetan und ein Greuel der Verwüstung aufgerichtet wird, sind 1290 Tage. Wohl dem, der da wartet und erreicht 1335 Tage!"

Der Beginn dieses Zeitabschnittes, nach Mondjahren¹ gerechnet, ist der Tag, an dem Muhammad Seine Sendung im Lande Hijáz erklärte. Dies war drei Jahre nach Seiner Berufung, denn zu Beginn war Seine Prophetenschaft geheimgehalten worden, und nur Khadíjih und Ibn-i-Naufal² wußten darum. Nach drei Jahren wurde sie allgemein bekanntgegeben. Bahá'u'lláh hat Seine Offenbarung im Jahre 1290³ öffentlich erklärt, also 1290 Mondjahre nach Muhammads öffentlicher Erklärung.

¹ 1290 Mondjahre sind 1251 Jahre christlicher Zeitrechnung. Also 1251 plus 612 (Erklärung Muhammads) ergibt 1863 n.Chr.

² Waraqat-Ibn-i-Naufal, Vetter der Khadíjih und ein vertrauter Muhammads.

³ Das Jahr 1290 von der Erklärung der Sendung Muhammads an entspricht dem Jahre 1280 der Hedschra, oder 1863 christlicher Zeitrechnung. Es war in diesem Jahr (April), kurz ehe Er Sich von Baghdád nach Konstantinopel auf den Weg machte, daß Bahá'u'lláh Sich Seiner nächsten Umgebung als die vom Báb angekündigte Offenbarung erklärte. Diese Erklärung feiern die Bahá'í mit dem Ridván-Fest. Ridván ist der Name des am Anfang der Stadt liegenden Gartens, in dem Sich Bahá'u'lláh 12 Tage aufhielt und Seine Erklärung machte.



#56

+11. Kapitel

ERLÄUTERUNGEN ZUM 11. KAPITEL DER OFFENBARUNG DES JOHANNES

Am Anfang des 11. Kapitels der Offenbarung des Johannes heißt es:

"Und es ward mir ein Rohr gegeben, einem Stecken gleich, und er sprach: Stehe auf und miß den Tempel Gottes und den Altar und die darin anbeten."

"Aber den Vorhof außerhalb des Tempels wirf hinaus und miß ihn nicht; denn er ist den Heiden¹ gegeben, und die heilige Stadt werden sie zertreten zweiundvierzig Monate."

¹ Im griechischen Text: "Völkern".

Dieses Rohr ist ein vollkommener Mensch, der mit einem Rohr verglichen wird, und die Bedeutung dieses Vergleichs ist die: Wenn das Innere des Rohres hohl und frei gemacht wird, können wunderbare Melodien auf ihm gespielt werden; und wie Ton und Melodie nicht von ihm selber kommen, sondern vom Flötenspieler, der darauf bläst, so ist das geheiligte Herz jenes gesegneten Menschen losgelöst von allem außer Gott, rein und frei von jeder menschlichen Bindung, und ist der Gefährte des göttlichen Geistes. Jede seiner Äußerungen kommt nicht von ihm selbst, sondern von dem wirklichen Flötenspieler und ist göttliche Eingebung. Darum wird er mit dem Rohr verglichen, und dieses Rohr ist wie ein Stab eine Hilfe für die Schwachen und eine Stütze für die menschlichen Geschöpfe. Es ist der Stab des göttlichen Hirten, mit dem Er Seine Herde hütet und zu den Weideplätzen im Königreiche leitet.

Weiter ist gesagt: " ... und er sprach: Stehe auf und miß den Tempel Gottes und den Altar und die darin anbeten." Das heißt, vergleiche und miß: Messen ist die Auffindung des richtigen Verhältnisses. Der Engel sagte also: Vergleiche den Tempel Gottes und den Altar mit denen, die darin beten, nämlich ermiß ihre wirkliche Beschaffenheit und erforsche, auf welcher Stufe sie stehen, welchen Rang, welche Vollkommenheiten und Eigenschaften sie haben und wie ihr Zustand und ihr Betragen sind. Verschaffe dir Kenntnis von den Geheimnissen dieser heiligen Seelen, die in Reinheit und Heiligkeit am Allerheiligsten wohnen.

#57

"Aber den Vorhof außerhalb des Tempels wirf hinaus und miß ihn nicht; denn er ist den Heiden gegeben ... "

Zu Beginn des 7. Jahrhunderts nach Christus, als Jerusalem erobert wurde, blieb das Allerheiligste, nämlich das Gebäude, das Salomon errichtet hatte, äußerlich erhalten. Der Vorhof außerhalb des Allerheiligsten aber wurde weggenommen und den Heiden gegeben. "Und die heilige Stadt werden sie zertreten zweiundvierzig Monate." Das heißt, die Fremden werden Jerusalem 42 Monate lang, also 1260 Tage, beherrschen und leiten. Da jeder Tag ein Jahr bedeutet, ergeben sich nach dieser Rechnung 1260 Jahre, was der Dauer des Zeitalters des Islám entspricht. Denn nach dem Text der Heiligen Schrift ist jeder Tag ein Jahr, wie wir im 4. Kapitel, Vers 6, des Buches Hesekiel lesen: "Du sollst tragen die Missetat des Hauses Juda vierzig Tage lang; denn ich gebe dir hier auch je einen Tag für ein Jahr."

Die Berechnung dieser Prophezeiungen beginnt mit der Offenbarung des Islám, als Jerusalem zertreten wurde, das heißt, daß es entehrt wurde. Das Allerheiligste aber blieb erhalten, beschützt und geehrt. Diese Ereignisse dauerten bis 1260. Diese 1260 Jahre sind eine Prophezeiung für die Offenbarung des Báb, des Tores¹ für Bahá'u'lláh, Der im Jahre 1260 nach der Auswanderung Muhammads erschien. Da die Zeit von 1260 Jahren damit beendet wurde, beginnt Jerusalem, die Heilige Stadt, wiederum aufzublühen, bevölkert und glücklich zu werden. Jeder, der Jerusalem vor 60 Jahren sah und es heute² wiedersieht, wird bemerken, wie es gedeiht, wie volkreich es geworden ist und seine Ehre wieder gefunden hat.

¹ d.h. Vorläufers. ² im Jahre 1904

Dies ist der äußere Sinn der Verse der Offenbarung Johannis, aber es gibt noch eine andere Erklärung und eine symbolische Bedeutung: Das göttliche Gesetz zerfällt in zwei Teile; ein Teil ist die wesentliche Grundlage, die alle geistigen Dinge umfaßt, das heißt, er bezieht sich auf die geistigen Tugenden und göttlichen Eigenschaften. Er unterliegt weder Wechsel noch Wandel. Er ist das Allerheiligste, das der Kern im Gesetz Adams, Noahs, Abrahams, Mose, Christi, Muhammads, des Báb und Bahá'u'lláhs ist, und das besteht und gültig bleibt durch die Zeitalter aller Propheten. Niemals wird er aufgehoben, denn er ist geistige, nicht materielle Wirklichkeit. Er ist Glaube, Wissen, Gewißheit, Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Rechtschaffenheit, Vertrauenswürdigkeit, Liebe zu Gott, innerer Friede, Reinheit, Loslösung, Demut, Sanftmut, Geduld und Standhaftigkeit. Er ist Mitleid mit den Armen, verteidigt die Unterdrückten, beschenkt die Unglücklichen und hebt die Gefallenen auf.

#58

Diese göttlichen Eigenschaften, diese ewigen Gebote werden niemals aufgehoben, sondern sie werden bestehen und in alle Ewigkeit dauern. Diese Tugenden der Menschheit werden in jedem prophetischen Zyklus erneuert, denn an seinem Ende geht das geistige Gesetz Gottes, das heißt die menschlichen Tugenden, verloren, und nur die äußere Form bleibt zurück.

So war bei den Juden am Ende des mosaischen Zeitalters, das mit der Offenbarung Christi zusammenfällt, das göttliche Gesetz verlorengegangen, und eine Form ohne Geist war übriggeblieben. Das Allerheiligste war unter ihnen verschwunden, aber der Vorhof Jerusalems als Ausdruck für die Form der Religion - fiel in die Hände der Heiden. So ging auch das Wesentliche des göttlichen Gesetzes Christi, in dem die höchsten Tugenden der Menschheit enthalten sind, verloren, und nur die äußere Form blieb in den Händen der Priester und Mönche zurück. Und ebenso ist die Grundlage der Religion Muhammads verschwunden, aber ihre Form blieb in den Händen der amtlichen 'Ulamá. - Jene Grundlagen der Religion Gottes, die geistiger Natur und die Tugenden der Menschheit sind, werden niemals aufgehoben. Sie werden nie abgesetzt, sind ewig und werden im Zeitalter jedes Propheten erneuert.

Der zweite Teil des göttlichen Gesetzes, der die stoffliche Welt betrifft und Fasten, Gebet, Gottesdienst, Ehe und Scheidung, Abschaffung der Sklaverei, Gerichtsbarkeit, geschäftliche Angelegenheiten sowie Strafe und Sühne für Mord, Gewalttat, Diebstahl und Körperverletzung umfaßt, - dieser Teil also, der sich auf die materiellen Dinge bezieht, wird in jedem prophetischen Zyklus je nach den Erfordernissen der Zeit geändert und abgewandelt.

#59

Kurz, was mit dem Ausdruck "das Allerheiligste" gemeint ist, ist jenes geistige Gesetz, das niemals verändert, abgewandelt oder aufgehoben wird, und die "Heilige Stadt" bedeutet das materielle Gesetz, das abgeschafft werden kann. Und dieses materielle Gesetz, das als die Heilige Stadt bezeichnet wird, sollte 1260 Jahre lang mit Füßen getreten werden.

"Und ich will meinen zwei Zeugen geben, daß sie sollen weissagen tausend zweihundertundsechzig Tage, angetan mit Säcken." Diese zwei Zeugen sind Muhammad, der Bote Gottes, und 'Alí, der Sohn Abú-Tálibs¹.

¹ 'Alí war der Schwiegersohn und Nachfolger Muhammads.

Im Qur'án steht geschrieben, daß Gott zu Seinem Propheten Muhammad sprach: "Wir haben dich zum Zeugen, zum Botschafter der Freude und zum Warner gemacht." Das heißt¹: "Wir haben dich als Zeugen, als Vermittler froher Botschaften und als Bringer des Zorns Gottes eingesetzt." Die Aufgabe eines Zeugen ist, die Tatsachen durch seine Aussage zu belegen. Die Gesetze dieser beiden Zeugen hatten während 1260 Tagen, von denen jeder ein Jahr bedeutet, Gültigkeit. Muhammad ist dem Stamm und 'Alí dem Zweig zu vergleichen, ebenso wie Moses und Josua. Weiter heißt es: " ... angetan mit Säcken." Das soll besagen, daß sie, äußerlich gesehen, alte Kleidung, keine neue, trugen. Mit anderen Worten, zu Beginn besaßen sie in den Augen des Volkes keinerlei äußeren Glanz, und ihre Sache erschien nicht neu, denn Muhammads geistiges Gesetz entspricht dem Gesetz Christi in den Evangelien, und viele Seiner Gesetze, die sich auf materielle Dinge beziehen, stimmen mit denen des Alten Testaments überein. Das ist die Bedeutung der alten Kleidung.

¹ Der zitierte arabische Qur'án-Text wird hier von 'Abdu'l-Bahá in freier persischer Übersetzung wiederholt.

Dann ist gesagt: "Diese sind die zwei Ölbäume und zwei Fackeln, stehend vor dem Herrn der Erde." Diese zwei Seelen vergleicht Er mit Ölbäumen, weil zu jener Zeit alle Lampen mit Olivenöl brannten. Es sind zwei Personen gemeint, von denen jener Geist der Weisheit Gottes, der die Ursache der Erleuchtung der Welt ist, erscheint. Diese Leuchten Gottes sollten strahlen und scheinen, deshalb wurden sie mit zwei Fackeln verglichen: Die Fackel ist der Wohnort des Lichts, und von ihr strahlt das Licht aus. In gleicher"Weise scheint und strahlt aus diesen erleuchteten Seelen das Licht der Führung.

#60

Weiter heißt es: " ... stehend vor dem Herrn der Erde." Sie stehen also im Dienst Gottes und erziehen Seine Geschöpfe, wie zum Beispiel die wilden Nomadenstämme der arabischen Halbinsel, die sie in solcher Weise erzogen, daß sie die höchste Kulturstufe jener Zeit erreichten und ihr Ruf und ihre Berühmtheit die Welt durchdrang.

"Und so jemand sie will schädigen, so geht Feuer aus ihrem Munde und verzehrt ihre Feinde." Damit ist gemeint, daß ihnen niemand Widerstand leisten kann. Wenn jemand ihre Lehren und ihr Gesetz herabsetzen will, so wird er von eben diesem Gesetz, das aus ihrem Munde geht, erfaßt und verzehrt. Und jeder, der versucht, sie zu hassen, zu verletzen und zu bekämpfen, wird durch einen Befehl, der aus ihrem Munde geht, vernichtet. Und so kam es auch; alle ihre Feinde wurden überwunden, in die Flucht geschlagen und zunichte gemacht. In dieser sichtbarsten Weise hat Gott ihnen beigestanden.

Ferner steht geschrieben: "Diese haben Macht, den Himmel zu verschließen, daß es nicht regne in den Tagen ihrer Weissagung," was bedeutet, daß sie in jenem Zyklus wie Könige sind. Das Gesetz und die Lehren Muhammads sowie die Erklärungen und Erläuterungen 'Alís sind himmlische Gnade; wenn sie wollen, haben sie die Macht, diese Gnade zu gewähren. Wenn sie nicht wollen, wird es nicht regnen: in diesem Zusammenhang ist Regen das Zeichen für Gnade.

Später heißt es: " ... und haben Macht über das Wasser, es zu wandeln in Blut." Damit soll gesagt sein: Das Prophetentum Muhammads ist dem Prophetentum Mose, und die Macht 'Alís derjenigen Josuas gleich. Wenn sie wollen, verwandeln sie das Wasser des Nils, soweit es die Ägypter und die Gottesleugner angeht, in Blut. Das heißt, daß das, was die Ursache ihres Lebens war, durch ihre Torheit und ihren Hochmut zur Ursache ihres Todes wurde. So wurden Herrschaft, Reichtum und Macht des Pharao und seines Volkes, die die Ursachen des Lebens der Nation waren, durch ihre Gegnerschaft und Verleugnung und ihren Stolz zur Ursache von Tod, Zerstörung, Zerstreuung, Erniedrigung und Armut. Diese beiden Zeugen haben also die Macht, Völker zu vernichten.

#61

Und weiter steht geschrieben: " ... und zu schlagen die Erde mit allerlei Plage, so oft sie wollen." Das bedeutet, daß sie auch die materielle Kraft und die Macht besitzen, Übeltäter, Bedrücker und Tyrannen zu erziehen. Denn Gott hat diese beiden Zeugen mit äußerer und innerer Macht begnadet, so daß sie die wilden, blutdürstigen und tyrannischen arabischen Nomaden, die wie Raubtiere waren, bessern und erziehen konnten.

"Und wenn sie ihr Zeugnis geendet haben", will sagen, wenn sie durchgeführt haben, wozu sie beauftragt waren, die göttliche Botschaft übermittelt, die Gesetze Gottes eingeführt und die himmlischen Lehren verbreitet haben, so daß die Zeichen geistigen Lebens in den Seelen offenbar würden, das Licht wahrer menschlicher Tugenden leuchte, bis umfassende Fortschritte unter die Nomadenstämme gebracht sind, " ... so wird das Tier, das aus dem Abgrund aufsteigt, mit ihnen einen Streit halten und wird sie überwinden und wird sie töten." Mit diesem Tier sind die Baní-Umayyih¹ gemeint, die sie aus dem Abgrund des Irrtums angriffen und sich gegen die Religion Muhammads und die Wirklichkeit 'Alís - mit anderen Worten die Liebe zu Gott - empörten.

¹ Die Dynastie der Umaijaden.

Wenn gesagt ist, daß das Tier mit den beiden Zeugen einen Streit hält, so heißt das einen geistigen Streit. Denn es wird sich in voller Stärke gegen die Lehren, die Einrichtungen und das Brauchtum dieser beiden heiligen Seelen wenden, und zwar in einem solchen Ausmaß, daß die Tugenden und Vorzüge, die durch die Kraft dieser beiden Zeugen unter den Völkern und Stämmen verbreitet wurden, ganz verloren gehen, und die tierische Natur und sinnliche Leidenschaften die Oberhand gewinnen werden. Deshalb werde dieses Tier, das einen Streit mit ihnen hält, sie überwinden; das heißt, die Dunkelheit des Irrtums, die von dieser Bestie ausgeht, wird die ganze Welt beherrschen, und sie wird jene beiden Zeugen töten. Mit anderen Worten: Das von ihnen unter den Völkern erweckte geistige Leben wird das Tier vernichten, und die Religion Gottes mit den Füßen tretend, wird es die göttlichen Gesetze und Lehren völlig beseitigen. Danach wird nichts als ein lebloser Körper ohne Geist übrigbleiben.

#62

"Und ihre Leichname werden liegen auf der Gasse der großen Stadt, die da heißt geistlich 'Sodom und Ägypten', da auch ihr Herr gekreuzigt ist." "Ihre Leichname" bedeutet die Religion Gottes, und die "Gasse" bezeichnet ihre öffentliche Anprangerung. "Sodom und Ägypten, da auch ihr Herr gekreuzigt ist" bezieht sich auf jene Gegend Syriens, und besonders auf Jerusalem, wo die Umaijaden damals herrschten. Hier wurden die göttlichen Lehren und das Gesetz Gottes zuerst mißachtet, und ein Körper ohne Geist blieb zurück. "ihre Leichname" steht für Gottes Gesetz, das wie ein lebloser Körper ohne Geist übrigblieb.

"Und es werden etliche von den Völkern und Geschlechtern und Sprachen ihre Leichname sehen drei Tage und einen halben und werden ihre Leichname nicht lassen in Gräber legen." Wie früher bereits erklärt wurde, bedeuten nach der Ausdrucksweise der Heiligen Bücher drei und ein halber Tag drei und ein halbes Jahr, drei und ein halbes Jahr aber bestehen aus 42 Monaten, und 42 Monate aus 1260 Tagen; und da jeder Tag nach dem Text der Heiligen Schrift ein Jahr bedeutet, heißt das, daß während 1260 Jahren, die den Zyklus des Qur'án bilden, die Stämme, Nationen und Völker "ihre Leichname sehen", was heißt, daß sie aus der Religion Gottes eine Schaustellung machen: einerseits handeln sie nicht in Übereinstimmung mit ihr, andererseits lassen sie nicht zu, daß "ihre Leichname" - eben das Gesetz Gottes - zu Grabe getragen werden. Äußerlich halten sie an der Religion Gottes fest und lassen sie nicht völlig aus ihrer Mitte verschwinden; auch erlauben sie nicht, daß ihr toter Körper ganz zerstört und vernichtet werde. In Wirklichkeit aber haben sie das Gesetz Gottes verlassen, und nur nach außen hin erwähnen sie es und halten an seinem Namen fest.

Mit "etliche von den Völkern" sind die Stämme und Nationen gemeint, die unter dem Schutz des Qur'án vereinigt sind und die nicht zulassen, daß die Sache Gottes und Sein Gesetz auch nach außen hin völlig zertreten und zerstört werden. So haben sie das Gebet und das Fasten beibehalten, aber die wirklichen Grundlagen der Religion Gottes, nämlich Moral, gute Lebensführung und Erkenntnis der göttlichen Geheimnisse sind verlorengegangen. Das Licht der menschlichen Tugenden, die aus der Gottesliebe und Gotteserkenntnis erwachsen, ist erloschen, und die Dunkelheit der Gewalt, der Unterdrückung und satanischer Leidenschaften und Laster hat die Oberhand gewonnen. Der Körper des göttlichen Gesetzes wurde wie ein Leichnam in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt, und zwar 1260 Tage lang, von denen jeder ein Jahr bedeutet. Und dies ist die Zeit des Muhammadanischen Zyklus.

#63

Was diese beiden Männer geschaffen hatten, und was das Fundament des göttlichen Gesetzes gewesen war, das haben die Menschen verwirkt. Sie zerstörten die Tugenden der menschlichen Welt, die die göttlichen Geschenke und der Geist dieser Religion sind, in solcher Weise, daß Aufrichtigkeit, Gerechtigkeit, Liebe, Einigkeit, Reinheit, Heiligkeit, Loslösung und alle göttlichen Eigenschaften unter ihnen vergingen. Nur Gebete und Fasten blieben von der Religion bestehen; dieser Zustand dauerte 1260 Jahre, was die Zeitspanne für den Zyklus des Furqán¹ ist. Es war, als ob die beiden Zeugen gestorben und ihre Körper ohne Geist zurückgeblieben wären.

¹ Ein anderer Name für den Qur'án, der seine Bedeutung kennzeichnet.

"Und die auf Erden wohnen, werden sich freuen über sie und wohlleben und Geschenke untereinander senden; denn diese zwei Propheten quälten die auf Erden wohnten." "Die auf Erden wohnten" bedeutet die anderen Nationen und Rassen, nämlich die Völker Europas und des fernen Asiens. Als sie sahen, daß sich der Charakter des Islám völlig verändert hatte, daß das göttliche Gesetz nicht mehr befolgt wurde, daß Tugenden, Eifer und Ehre vernichtet und die Eigenschaften verwandelt waren, freuten sie sich und waren froh, daß Sittenverderbnis die islamischen Völker angesteckt hatte, denn sie wußten, daß diese deshalb von anderen Völkern unterworfen werden würden. So ist es auch geschehen. Sieh, wie dieses Volk, das auf dem Gipfel der Macht stand, heute erniedrigt und unterdrückt ist.

Die anderen Völker werden "Geschenke untereinander senden" heißt, sie werden sich gegenseitig helfen, "denn diese zwei Propheten quälten die auf Erden wohnten". Mit anderen Worten, sie hatten die anderen Völker und Nationen der Welt besiegt und unterworfen.

"Und nach drei Tagen und einem halben fuhr in sie der Geist des Lebens von Gott, und sie traten auf ihre Füße; und eine große Furcht fiel über die, so sie sahen." Dreieinhalb Tage bedeuten 1260 Jahre, wie vorher ausführlich erklärt wurde. Die zwei Personen, deren Körper ohne Geist dalagen, bedeuten die Unterweisungen und das religiöse Gesetz, das Muhammad begründet und 'Alí verbreitet hatte, dessen wahre Grundlage jedoch verlorenging und von dem nur die äußere Form übrigblieb. In diese Körper kehrte der Geist zum zweiten Male ein, das heißt, jene Grundlagen und Lehren wurden zum zweiten Male eingesetzt. Mit anderen Worten: Geistigkeit des göttlichen Gesetzes war in Materialismus, Tugenden in Laster, Liebe zu Gott in Haß, Erleuchtung in Finsternis, göttliche Eigenschaften in satanische, Gerechtigkeit in Tyrannei, Erbarmen in Feindseligkeit, Aufrichtigkeit in Lüge, Führung in Irreleitung und Keuschheit in niedrige Sinnenlust verwandelt worden. Nach dreieinhalb Tagen, die nach der Ausdrucksweise der Heiligen Bücher 1260 Jahre bedeuten, wurden jene göttlichen Lehren, Tugenden und Vollkommenheiten und die geistigen Gnadenbeweise durch das Erscheinen des Báb und die Ergebenheit des Quddús¹ erneuert.

¹ Háji Muhammad 'Alí Barfurúshi, einer der bedeutendsten Jünger des Báb und einer der neunzehn "Buchstaben des Lebendigen".

#64

Der Atem der Heiligkeit wehte, das Licht der Wahrheit leuchtete, der seelenerquickende Frühling erschien, und der Morgen der Führung dämmerte. Die beiden leblosen Körper wurden wieder belebt, und diese beiden großen Männer, der eine der Begründer, der andere der Verbreiter, standen auf und waren wie zwei Fackeln, denn sie erleuchteten die Welt mit dem Lichte der Wahrheit.

"Und sie hörten eine große Stimme vom Himmel zu ihnen sagen: Steiget herauf! Und sie stiegen auf in den Himmel ..." Das heißt, aus dem verborgenen Himmel hörten sie die Stimme Gottes, die sprach: Was getan werden mußte und was notwendig war, habt ihr vollbracht, die Lehren und frohen Botschaften habt ihr verbreitet, Meine Botschaft habt ihr den Geschöpfen übermittelt, den Ruf Gottes habt ihr erschallen lassen und eueren Auftrag habt ihr erfüllt. Nun müßt ihr wie Christus euer Leben dem innig Geliebten als Opfer darbringen und Märtyrer werden. Und jene Sonne der Wahrheit und jener Mond der Führung¹ gingen beide wie Christus am Horizont des größten Martyriums unter und stiegen auf zum Königreich Gottes.

¹ Der Báb und sein Jünger Quddús.

#65

" ... und es sahen sie ihre Feinde" das heißt, viele ihrer Feinde erkannten nach ihrem Märtyrertod die Höhe ihrer Stufe und die Erhabenheit ihres Verdienstes und bekundeten ihre Größe und Vollkommenheit.

"Und zu derselben Stunde ward ein großes Erdbeben, und der zehnte Teil der Stadt fiel, und wurden getötet in dem Erdbeben siebentausend Namen der Menschen."

Dieses Erdbeben ereignete sich in Shiráz nach dem Märtyrertod des Báb. Die Stadt war in Aufruhr, und viele Menschen kamen um. Darüber hinaus herrschte durch Krankheiten, Cholera, Hungersnot, Teuerung, Mangel und Unglück so große Erregung, wie sie nie zuvor dagewesen war.

"Und die anderen erschraken und gaben Ehre dem Gott des Himmels."

Bei dem Erdbeben in Fárs jammerten und klagten die Überlebenden Tag und Nacht, sie flehten und riefen zu Gott; sie waren so von Angst und Aufregung erfüllt, daß sie nachts weder Schlaf noch Ruhe fanden.

"Das andere Wehe ist dahin; siehe, das dritte Wehe kommt schnell." Das erste Wehe war das Erscheinen Muhammads, des Sohnes 'Abdu'lláhs - Friede sei mit ihm. Das zweite Wehe war das Kommen des Báb - Ruhm und Preis seien ihm. Das dritte Wehe ist der große Tag der Offenbarung des Herrn der Heerscharen und der Strahlungspunkt der Schönheit des Verheißenen. Die Erklärung für diesen Punkt, das Wehe, steht im Buche Hesekiel im 30. Kapitel, Vers 2-3, wo es heißt: "Und des Herrn Wort geschah zu mir und sprach: Du Menschenkind, weissage und sprich: So spricht der Herr, Herr: Heulet: 'O weh des Tages'. Denn der Tag ist nahe, ja, des Herrn Tag ist nahe."

Es ist demnach sicher, daß der Tag des Wehe der Tag des Herrn ist; denn jener Tag bringt das Wehe den Achtlosen, den Sündern und den Nicht-Erkennenden. Darum ist gesagt: "Das andere Wehe ist dahin; siehe, das dritte Wehe kommt schnell." Dieses dritte Wehe ist der Tag der Offenbarung Bahá'u'lláhs, der Tag Gottes; und er war nahe dem Tag des Erscheinens des Báb.

"Und der siebente Engel posaunte; und es wurden große Stimmen im Himmel, die sprachen: Es sind die Reiche der Welt unseres Herrn und seines Christus geworden, und er wird regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit."

#66

Der siebente Engel ist ein mit himmlischen Eigenschaften begabter Mensch, der sich mit überirdischem Wesen und Charakter erheben wird. Stimmen werden laut, damit das Erscheinen der Offenbarung Gottes verkündet und bekannt werde. Am Tage des Kommens des Herrn der Heerscharen und in der Zeit des göttlichen Zyklus des Allmächtigen, der in allen Büchern und Schriften der Propheten verheißen und erwähnt wurde, - an diesem Tag des Herrn wird das geistige und göttliche Königreich errichtet und die Welt erneuert; ein neuer Geist wird allem Erschaffenen eingehaucht, die Zeit des göttlichen Frühlings bricht an, die Wolken der Gnade regnen, die Sonne der Wahrheit scheint, der lebenspendende Windhauch weht, die Menschenwelt legt ein neues Gewand an, die Erde wird zu einem erhabenen Paradiese; die Menschheit wird erzogen, Krieg, Streit, Zank und Bosheit verschwinden, Wahrhaftigkeit, Rechtschaffenheit, Ehrlichkeit und Gottesverehrung erscheinen; Einigkeit, Liebe und Brüderlichkeit werden die Welt erfüllen, und Gott wird herrschen von Ewigkeit zu Ewigkeit, das heißt, daß das geistige und ewige Königreich aufgerichtet wird. So ist der Tag Gottes. Alle Tage, die früher kamen und gingen, waren die Tage Abrahams, Mose, Christi oder der anderen Propheten, dieser Tag aber ist der Tag Gottes, denn die Sonne der Wahrheit wird in all ihrer Pracht und Herrlichkeit aufgehen.

"Und die vierundzwanzig Ältesten, die vor Gott auf ihren Stühlen saßen, fielen auf ihr Angesicht und beteten Gott an und sprachen: "Wir danken Dir, Herr, allmächtiger Gott, Der Du bist und warest, daß Du hast angenommen Deine große Kraft und herrschest."

In jedem Zyklus waren die Auserwählten und Heiligen zwölf Männer. Jakob hatte zwölf Söhne; in den Tagen Mose waren es zwölf Stammeshäupter; in der Zeit Christi waren es zwölf Jünger und in den Tagen Muhammads zwölf Imáme. Aber in dieser herrlichen Offenbarung sind es vierundzwanzig Männer, das Doppelte all der anderen, denn die Größe dieser Offenbarung erfordert es. Diese heiligen Seelen sitzen in der Gegenwart Gottes auf ihren eigenen Thronen, was bedeutet, daß sie ewig herrschen.

#67

Diese vierundzwanzig großen Persönlichkeiten verehren, obgleich sie auf den Thronen ewiger Herrschaft sitzen, dennoch das Erscheinen der allumfassenden Offenbarung und sind ergeben und demütig und sagen: "Wir danken Dir, Herr, allmächtiger Gott, Der Du bist und warest, daß Du hast angenommen Deine große Kraft und herrschest." Das besagt: Deine Lehren wirst Du überall verbreiten, und alles, was auf Erden ist, wirst Du unter Deinem Schutz vereinen, und die ganze Menschheit wirst Du im Schatten eines einzigen Zeltes versammeln. Obwohl es das ewige Königreich Gottes ist und Er immer ein Königreich hatte und noch hat, bedeutet das Königreich hier Seine eigene Offenbarung¹; und Er wird alle die Gesetze und Lehren, die der Geist für die menschliche Welt sind, und ewiges Leben geben. Diese allumfassende Offenbarung erobert die Welt durch geistige Macht, nicht durch Krieg und Streit; sie tut es mit Frieden und Heiterkeit, nicht mit dem Schwert und Waffen; sie errichtet dieses himmlische Königreich mit wahrer Liebe und nicht mit der Gewalt des Krieges. Sie fördert diese göttlichen Lehren durch Güte und Rechtlichkeit, nicht durch Waffengewalt und Härte. Sie erzieht die Menschen und Nationen so, daß sie trotz aller Verschiedenheit ihrer Lebensumstände, der Mannigfaltigkeit ihrer Sitten und Charaktere, der Unterschiede in ihren Religionen und Rassen, wie es in der Bibel heißt, wie der Wolf und das Lamm, der Leopard und das Zicklein, die Schlange und der Säugling Kameraden, Freunde und Gefährten werden. Der gegenseitige Rassenhaß, die religiösen Gegensätze und die nationalen Schranken werden völlig beseitigt, und alle werden unter dem Schatten des Gesegneten Baumes in größter Einigkeit und Harmonie miteinander leben.

¹ Seine vollkommenste Offenbarung.

"Und die Heiden sind zornig geworden," weil Deine Unterweisungen den niedrigen Neigungen der Heiden entgegenliefen, "und es ist gekommen Dein Zorn", das heißt, über alle kam offenbarer Schaden, weil sie Deine Ermahnungen, Ratschläge und Unterweisungen nicht befolgten; darum gingen sie Deiner ewigen Gnadengaben verlustig, und das Licht der Sonne der Wahrheit blieb vor ihnen verschleiert.

" ... und die Zeit der Toten, zu richten", das heißt, die Zeit kommt, in der die Toten, nämlich die Seelen, die dem Geist der Liebe Gottes fern sind und am ewigen Leben der Heiligkeit nicht teilhaben, gerecht gerichtet werden; dies bedeutet, daß sie sich erheben werden, um das zu empfangen, was sie verdienen. Er läßt die Wahrheit ihrer Geheimnisse sichtbar werden und zeigt, in welchen Niederungen sie in dieser Welt leben, so daß sie mit Recht Tote genannt werden.

#68

" ... und zu geben den Lohn Deinen Knechten, den Propheten und den Heiligen und denen, die Deinen Namen fürchten, den Kleinen und Großen." Dies besagt, daß Er die Gottesfürchtigen mit unendlicher Gnade auszeichnen und sie gleich Sternen am Himmel ewiger Erhabenheit leuchten lassen wird. Er hilft ihnen, indem Er sie zu einem Betragen und einer Lebensweise befähigt, die das Licht für die Menschheit, der Anlaß zur Führung und das Mittel zum ewigen Leben im göttlichen Königreich sind.

" ... und zu verderben, die die Erde verderbt haben." Das bedeutet, daß Er die Nachlässigen ausschließen wird, denn die Blindheit der Blinden wird offenbar, die Schau der Sehenden wird sich zeigen, die Torheit und Unwissenheit der Irregeleiteten wird erkannt und das Wissen und die Weisheit der Geführten werden deutlich; aus diesem Grunde werden die Verderber vernichtet.

"Und der Tempel Gottes ward aufgetan im Himmel." Das himmlische Jerusalem wird gefunden, und das Allerheiligste wird sichtbar. Das Allerheiligste bedeutet in der Sprache der Weisen das Wesen des göttlichen Gesetzes und die wahre göttliche Lehre, die in keinem Zyklus irgendeines Propheten verändert wurde, wie schon früher erklärt wurde. Das Heiligtum Jerusalems wird mit der Wirklichkeit des göttlichen Gesetzes verglichen, das das Allerheiligste ist, und all die Gesetze, Gebräuche, Riten und irdischen Vorschriften sind die Stadt Jerusalem - daher wird oben vom himmlischen Jerusalem gesprochen. Kurz, da in diesem Zyklus das göttliche Licht in hellstem Glanz von der Sonne der Wahrheit ausstrahlt, wird sich das Wesen der göttlichen Unterweisung in dieser erschaffenen Welt durchsetzen, und die Finsternis der Torheit und Unwissenheit wird vergehen; die Welt wird zu einer neuen Welt, und Erleuchtung wird vorherrschen. So wird das Allerheiligste erscheinen.

"Und der Tempel Gottes ward aufgetan im Himmel," heißt auch, daß durch die Verbreitung der göttlichen Lehren, das Erscheinen der himmlischen Geheimnisse und den Aufgang der Sonne der Wahrheit die Tore zum Heil und Erfolg in der ganzen Welt geöffnet sind und himmlische Segnungen sichtbar werden.

#69

"Und die Lade Seines Bundes ward in Seinem Tempel gesehen." Das heißt, das Buch Seines Testamentes wird in Seinem Jerusalem sichtbar, die Tafel des Bundes¹ wird geschrieben, und die Bedeutung von Testament und Bund wird klargemacht. Der göttliche Ruf durchdringt den Osten und Westen, und die Verkündung der Sache Gottes erfüllt die Welt. Die Verletzer des Bundes werden erniedrigt und zerstreut, und die Getreuen werden geliebt und erhöht, denn sie halten sich an das Buch des Testaments und stehen fest und aufrecht im Bunde.

"Und es geschahen Blitze und Stimmen und Donner und Erdbeben und ein großer Hagel." Nach dem Erscheinen des Buchs des Bundes erhebt sich ein großer Sturm, die Blitze des göttlichen Zornes zucken, die Donnerschläge der Bündnisverletzung werden vernehmbar, das Erdbeben des Zweifels zeigt sich, der Hagel der Vergeltung fällt auf die Verletzer des Bundes, und sogar jene, die sich als gläubig bekennen, werden von Prüfungen und Versuchungen heimgesucht.

¹ Ein Werk Bahá'u'lláhs, in dem Er 'Abdu'l-Bahá ausdrücklich als denjenigen bestimmt, zu dem sich alle nach Seinem Tode wenden sollen. Es trägt den Namen Kitáb-i-'Ahd und ist als "Buch des Bundes" zusammen mit dem "Willen und Testament" 'Abdu'l-Bahás in Deutsch im Bahá'í-Verlag, Frankfurt am Main, 1957 in 2. und 3. Auflage erschienen.



#70

+12. Kapitel

ERLÄUTERUNGEN ZUM 11. KAPITEL DES BUCHES JESAJA

In Jesaja 11, Vers 1-9, steht geschrieben: "Und es wird eine Rute aufgehen von dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen, auf welchem wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn. Und Wohlgeruch wird ihm sein die Furcht des Herrn. Er wird nicht richten, nach dem seine Augen sehen, noch Urteil sprechen, nach dem seine Ohren hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande und wird mit dem Stabe seines Mundes die Erde schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und der Glaube der Gurt seiner Hüften. Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen und die Parder bei den Böcken liegen. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden auf der Weide gehen, daß ihre Jungen beieinander liegen; und Löwen werden Stroh essen wie die Ochsen. Und ein Säugling wird seine Lust haben am Loch der Otter, und ein Entwöhnter wird seine Hand stecken in die Höhle des Basilisken. Man wird nirgend Schaden tun noch verderben auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land ist voll Erkenntnis des Herrn, wie Wasser das Meer bedeckt."

Die Rute aus dem Stamm Isais scheint Christus zu meinen, denn Joseph war aus dem Geschlecht Isais, des Vaters von David. Aber da Christus durch den Heiligen Geist geboren war, nannte Er Sich Selbst Sohn Gottes. Wäre dies nicht so gewesen, so könnten diese Äußerungen auf ihn zutreffen. Darüber hinaus aber sind einige der Ereignisse, von denen der Prophet sagte, daß sie zur Zeit dieses Sprosses geschehen werden, eingetroffen, wenn sie als Gleichnis genommen werden, aber nicht alle; werden sie dagegen nicht symbolisch genommen, so wurde keines dieser Zeichen zur Zeit Christi erfüllt. Zum Beispiel sind der Leopard und das Lamm, der Löwe und das Kalb, die Otter und der Säugling Bilder und Gleichnisse für die verschiedenen Nationen und Völker, sich bekämpfende Sekten und feindliche Rassen, die in ihrer Gegnerschaft und Feindschaft wie Wolf und Lamm sind. Wir sagen, daß sie durch den Odem des Geistes Christi den Geist der Eintracht und Harmonie fanden, daß sie von ihm belebt wurden und sich miteinander vereinten.

#71

Aber "man wird nirgend Schaden tun noch verderben auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land ist voller Erkenntnis des Herrn, wie Wasser das Meer bedeckt." Diese Umstände haben sich zur Zeit der Offenbarung Christi nicht erfüllt; denn bis auf den heutigen Tag gibt es auf der Welt verschiedene und sich bekämpfende Nationen, nur wenige Menschen bekennen sich zum Gotte Israels, und die meisten von ihnen besitzen nicht die Erkenntnis Gottes. Ebenso ist der allgemeine Friede in der Zeit Christi nicht verwirklicht worden, das heißt, unter den sich bekämpfenden und feindlichen Nationen sind Friede und Eintracht nicht zustande gekommen, Streit und Meinungsverschiedenheiten sind nicht überwunden und Versöhnung und Aufrichtigkeit nicht gewonnen worden. So hegen sogar die christlichen Glaubensgemeinschaften und Völker untereinander bis auf den heutigen Tag größte Feindschaft, und sie hassen und bekämpfen sich gegenseitig.

Aber jene Verse treffen Wort für Wort auf Bahá'u'lláh zu: In diesem wunderbaren Zyklus aber wird die Erde verwandelt und die Welt der Menschheit mit Frieden und Schönheit geschmückt. Feindseligkeit, Streit und gegenseitiges Töten werden zu Harmonie, Wahrhaftigkeit und Eintracht; zwischen den Nationen, Völkern, Rassen und Ländern werden gutes Einvernehmen und Liebe herrschen. Zusammenarbeit und Verbundenheit werden sich festigen, und schließlich wird der Krieg ganz unmöglich sein. Wenn die Gebote des Heiligsten Buches¹ in Kraft getreten sind, werden Interessenkämpfe und Streitigkeiten durch einen allgemeinen Gerichtshof aller Staaten und Nationen in größter Gerechtigkeit geschlichtet und entschieden und alle auftretenden Schwierigkeiten gelöst werden. Die fünf Erdteile der Welt werden wie 'ein Land' sein, die vielen Völker werden wie 'ein Volk', die Erdoberfläche wird wie 'ein Vaterland' und das Menschengeschlecht wie 'eine Gemeinde' sein. Die Verbindung der Länder untereinander, der Verkehr, die Eintracht und Freundschaft unter den Völkern und Gemeinden werden so groß sein, daß die ganze Menschheit wie 'eine Familie' und 'ein Geschlecht' wird. Das Licht himmlischer Liebe wird leuchten, und die Dunkelheit des Hasses und der Feindschaft wird vergehen. Ein universaler Friede wird inmitten dieser Welt errichtet, und der gesegnete Baum des Lebens wird so hoch wachsen und gedeihen, daß sein Schatten über den Osten und den Westen fällt. Die Starken und die Schwachen, die Reichen und die Armen, die streitenden Sekten und die gegnerischen Nationen, die dem Wolf und dem Lamm, dem Leoparden und dem Zicklein, dem Löwen und dem Kalb gleichen, werden in größter Liebe, Freundschaft, Gerechtigkeit und Unparteilichkeit zusammenwirken. Die Welt wird von Wissenschaft, vom Wissen um die Geheimnisse des Seins und der Erkenntnis des Herrn erfüllt sein.

¹ Kitáb-i-Aqdas

#72

Überlege nun, was für Fortschritte Wissenschaft und Erkenntnis in diesem großen Jahrhundert, das zum Zyklus Bahá'u'lláhs gehört, gemacht haben, wie viele Geheimnisse des Seins entdeckt und wie viele große Erfindungen erdacht wurden, die Tag für Tag um ein Vielfaches zunehmen. Bald werden sich Wissenschaft und Kenntnisse, ebenso wie die Erkenntnis Gottes, so entwickeln und solche Wunder aufzeigen, daß alle, die es erleben, darüber staunen werden. Dann wird der geheime Sinn des Verses Jesajas "Denn das Land ist voll Erkenntnis des Herrn" völlig offenbar.

Überlege auch, daß während der kurzen Zeit, die seit dem Erscheinen Bahá'u'lláhs vergangen ist, Menschen aus allen Ländern, Völkern und Rassen unter den Schutz dieser Sache kamen. Christen, Juden, Zoroastrier, Buddhisten, Hindus und Perser, alle schließen sich in größter Freundschaft und Liebe zusammen, als seien diese Menschen und ihre Angehörigen seit tausend Jahren miteinander verwandt und verbunden; denn sie sind wie Vater und Sohn, Mutter und Tochter, Bruder und Schwester. Dies ist eine der Bedeutungen der Freundschaft zwischen Wolf und Lamm, Leopard und Zicklein, Löwe und Kalb.

#73

Eines der großen Ereignisse, das am Tage des Erscheinens dieses unvergleichlichen Sprosses eintreten soll, ist das Hissen des Banners des Herrn unter allen Völkern. Das heißt, daß alle Völker und Stämme unter den Schutz dieses göttlichen Banners, das kein anderes als der erhabene Sproß Selbst ist, kommen und zu einem einzigen Volke werden. Die Gegensätze der Glaubensbekenntnisse und Religionen, die Feindschaft zwischen Rassen und Völkern und die Verschiedenheiten vaterländischer Interessen werden verschwinden. Alle werden 'einer Religion', 'einem Bekenntnis', 'einer Rasse' und 'einem Volk' angehören und in 'einem Vaterland' wohnen, das die ganze Erde ist. Universaler Friede und Einheit werden unter allen Völkern verwirklicht, und jener unvergleichliche Sproß wird ganz Israel versammeln. Das kündet an, daß in diesem Zyklus Israel im Heiligen Land versammelt wird, und daß die Juden, die im Osten und Westen, im Süden und Norden zerstreut sind, vereinigt werden.

Nun sieh, daß sich dies im Zeitalter Christi nicht ereignet hat, denn die Völker sind nicht unter dem einen Banner, mit dem der göttliche Sproß gemeint ist, zusammengekommen. Aber in diesem Zyklus des Herrn der Heerscharen werden alle Völker und Nationen unter den Schutz dieses Banners gelangen. Auch das in alle Welt zerstreute Israel wurde im christlichen Zeitalter nicht im Heiligen Land von neuem vereint. Aber am Anfang des Zeitalters Bahá'u'lláhs begann sich dieses göttliche Versprechen, das in allen Büchern der Propheten verkündet wurde, zu erfüllen. Man kann sehen, wie von allen Teilen der Welt jüdische Geschlechter zum Heiligen Land kommen; sie leben in Dörfern und auf Boden, den sie sich erwerben, und Tag für Tag vermehrt sich ihre Zahl in einem solchen Ausmaß, daß ganz Palästina ihre Heimat werden wird¹.

¹ Diese Worte wurden im Jahre 1904 gesprochen und niedergeschrieben und bald darauf im Druck veröffentlicht.



#74

+13. Kapitel

ERLÄUTERUNGEN ZUM 12. KAPITEL DER OFFENBARUNG DES JOHANNES

Wie schon früher erklärt, bedeutet die Heilige Stadt, das Jerusalem Gottes, an den meisten Stellen des Heiligen Buches das Gesetz Gottes. Es wird manchmal einer Braut, zuweilen Jerusalem und dann wieder einem neuen Himmel und einer neuen Erde gleichgesetzt. So steht im 21. Kapitel, Vers 1-3, der Offenbarung des Johannes geschrieben: "Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde verging, und das Meer ist nicht mehr. Und ich, Johannes, sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabfahren, bereitet als eine geschmückte Braut ihrem Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Stuhl, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden Sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein."

Sieh, wie klar es ist, daß der erste Himmel und die erste Erde das frühere Gesetz bezeichnen. Denn es ist gesagt, daß der erste Himmel und die erste Erde vergingen und das Meer nicht mehr ist. Das heißt: Die Erde ist der Ort des Gerichtes, und am Ort des Gerichtes ist das Meer nicht mehr, nämlich die Lehren und das Gesetz Gottes werden auf der ganzen Erde verbreitet, alle Menschen nehmen die Sache Gottes an, und die Erde wird ganz von Gläubigen bewohnt. Deshalb gibt es kein Meer mehr, denn Wohnung und Lebensraum des Menschen liegen auf dem Festland. Mit anderen Worten, in jenem Zeitalter wird es für die Menschen zum Vergnügen, auf dem Feld des göttlichen Gesetzes zu wandeln. Solch eine Erde ist fest, auf ihr gibt es kein Ausgleiten.

Das Gesetz Gottes wird auch mit der Heiligen Stadt, dem Neuen Jerusalem, verglichen. Es ist klar, daß das Neue Jerusalem, das vom Himmel herniederkommt, keine Stadt aus Stein, Kalk, Ziegeln, Mörtel und Holz ist. Es ist das Gesetz Gottes, das vom Himmel kommt und neu genannt wird; denn es ist selbstverständlich, daß das Jerusalem aus Stein und Mörtel nicht vom Himmel herabkommt und daß es nicht erneuert wird. Was aber erneuert wird, ist das Gesetz Gottes.

#75

Das göttliche Gesetz wird auch mit einer Braut verglichen, die im schönsten Schmucke erscheint, wie es im 21. Kapitel der Offenbarung des Johannes heißt: "Und ich, Johannes, sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabfahren, bereitet als eine geschmückte Braut ihrem Mann." Und im 12. Kapitel, Vers 1, steht geschrieben: "Und es erschien ein großes Zeichen im Himmel: ein Weib, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen." Dieses Weib ist jene Braut und bedeutet das göttliche Gesetz, das durch Muhammad offenbart wurde. Die Sonne, mit der sie bekleidet war, und der Mond unter ihren Füßen sind die zwei Nationen, die unter dem Schutz jenes Gesetzes stehen, das persische und das türkische Reich; denn das Sinnbild Persiens ist die Sonne und das der Türkei der Halbmond. Sonne und Mond sind die Verkörperung von zwei Reichen, die unter der Gewalt des Gesetzes Gottes stehen. Dann heißt es: " ... auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen." Diese zwölf Sterne bezeichnen die zwölf Imáme, die die Verbreiter des Muhammadischen Gesetzes und die Erzieher des Volkes waren und die wie Sterne am Himmel der Führung leuchten.

Dann steht im zweiten Vers: "Und sie war schwanger und schrie in Kindesnöten und hatte große Qual zur Geburt." Das heißt, dieses Gesetz geriet in große Schwierigkeiten und hatte Nöte und schwere Prüfungen zu erleiden, bis ein vollkommener Sproß hervorging, nämlich die folgende Offenbarung, der Verheißene, der der vollkommene Sproß ist und im Schoß dieses göttlichen Gesetzes, das ihm wie eine Mutter ist, erzogen war. Mit diesem Sproß ist der Báb, der erste Punkt, gemeint, der in Wahrheit der Sohn des göttlichen Gesetzes Muhammads war. Die heilige Wirklichkeit also, die das Kind und die Frucht des Gesetzes Gottes, seiner Mutter, ist und die in jener Religion verheißen ist, erscheint im Lande jenes Gesetzes; wegen der Gewaltherrschaft des Drachens aber wurde das Kind zu Gott entrückt. Nach 1260 Tagen wurde der Drache vernichtet, und der Sohn des Gesetzes Gottes, der Verheißene, offenbarte sich.

#76

Verse 3 und 4: "Und es erschien ein anderes Zeichen im Himmel, und siehe, ein großer, roter Drache, der hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Häuptern sieben Kronen, und sein Schwanz zog den dritten Teil der Sterne des Himmels hinweg und warf sie auf die Erde." Diese Zeichen sind ein Hinweis auf die Dynastie der Umaijaden, die über die muhammadanische Religion herrschten. Die sieben Häupter und Kronen bezeichnen die sieben Länder und Gebiete, über die die Baní-Umayyih Gewalt hatten: Das römische Syrien, das persische, arabische und ägyptische Reich, sowie das afrikanische Gebiet, nämlich Tunis, Marokko und Algerien, das andalusische Reich, das heutige Spanien, und das Gebiet von Turkestan und Transoxanien (Buchara). Über diese Länder herrschten die Baní Umayyih. Die zehn Hörner bedeuten die Namen der umaijadischen Herrscher: es gab zehn Namen von Herrschern, also Führern und Befehlshabern - der erste war 'Abú Sufián und der letzte Mirván -, aber einige von ihnen trugen den gleichen Namen. So gab es zwei Mu'avíyyih, drei Yazíd, zwei Valíd und zwei Mirván, weshalb sich zehn Namen ergeben, ohne daß beim Zählen einer wiederholt wurde. Die Baní-Umayyih, von denen 'Abú-Sufián, Emir von Mekka und Haupt der Dynastie der Umaijaden, der erste und Mirván der letzte war, vernichteten ein Drittel der heiligen und gesegneten Nachkommen aus dem Geschlechte Muhammads, die wie Sterne des Himmels leuchteten.

Vers 4: "Und der Drache trat vor das Weib, die gebären sollte, auf daß, wenn sie geboren hätte, er ihr Kind fräße." Wie wir schon erklärt haben, ist dieses Weib das Gesetz Gottes. Der Drache wartete bei der Frau, um ihr Kind zu verschlingen, und dieses Kind war die verheißene Offenbarung, nämlich der Sproß des Gesetzes Muhammads. Die Umaijaden haben immer darauf gewartet, des Verheißenen, der aus dem Geschlechte Muhammads kommen soll, habhaft zu werden, um ihn zu vernichten und auszulöschen; denn sie fürchteten die Erscheinung der verheißenen Offenbarung, und sie suchten jeden Nachkommen Muhammads zu töten, der zu großem Ansehen gelangen könnte.

Vers 5: "Und sie gebar einen Sohn, ein Knäblein, das alle Heiden sollte weiden mit eisernem Stabe." Dieser große Sohn ist die verheißene Offenbarung, die aus dem Gesetze Gottes geboren und im Schoße der göttlichen Unterweisung erzogen wurde. Der eiserne Stab ist ein Symbol für Kraft und Macht - er ist nicht ein Schwert -, und das bedeutet, daß er mit göttlicher Kraft und Macht der Hirte aller Völker der Welt sein wird. Dieser Sohn ist der Báb.

#77

Vers 5: "Und ihr Kind ward entrückt zu Gott und seinem Stuhl." Diese Prophezeiung bezieht sich auf den Báb, Der aufgestiegen ist zum himmlischen Reich, zum Thron Gottes und zum Mittelpunkt Seines Königreichs. Sieh, wie all dies mit den Tatsachen übereinstimmt.

Vers 6: "Und das Weib entfloh in die Wüste ... " Das heißt, das Gesetz Gottes floh in die Wüste, denn es wurde in die weite Wüste Hijáz und auf die arabische Halbinsel verpflanzt.

Vers 6: " ... wo sie einen Ort hat, bereitet von Gott ... " Die arabische Halbinsel wurde zum Zufluchtsort, zur Wohnstätte und zum Mittelpunkt des göttlichen Gesetzes.

Vers 6: " ... daß sie daselbst ernährt würde tausendzweihundertundsechzig Tage." Nach der Ausdrucksweise der Bibel bedeuten diese 1260 Tage, daß das Gesetz Gottes 1260 Jahre in der großen arabischen Wüste eingesetzt war. Aus ihm ist der Verheißene hervorgegangen. Nach 1260 Jahren wird dieses Gesetz keinen Einfluß mehr haben, denn die Frucht jenes Baumes wird erschienen und die Wirkung erzielt sein.

Beachte, wie die Prophezeiungen miteinander übereinstimmen. in der Offenbarung wird das Erscheinen des Verheißenen auf 42 Monate anberaumt, und Daniel spricht von drei Zeiten und einer halben, was ebenfalls 42 Monate ergibt; diese entsprechen 1260 Tagen. An anderer Stelle der Offenbarung des Johannes sind deutlich 1260 Tage erwähnt¹, und in der Heiligen Schrift steht, daß jeder Tag ein Jahr bedeutet. Noch klarer könnten diese Prophezeiungen nicht miteinander übereinstimmen. Der Báb erschien im Jahre 1260 nach der Auswanderung Muhammads, mit der die allgemeine Muhammadanische Zeitrechnung beginnt. In den Heiligen Büchern ist keine Prophezeiung über das Kommen eines Offenbarers klarer gegeben worden. Für den, der gerecht urteilt, ist die Übereinstimmung der von jenen großen Männern verkündeten Daten der schlüssigste Beweis. Für diese Prophezeiungen ist keine andere Erklärung möglich. Gesegnet sind die gerechten Seelen, die nach Wahrheit suchen. Wo aber Gerechtigkeit fehlt, zankt und beschimpft man sich und leugnet öffentlich die klaren Tatsachen; wie die Pharisäer, die beim Erscheinen Christi mit größter Hartnäckigkeit die Lehren und Erklärungen Christi und Seiner Jünger abstritten. Sie verdunkelten Seine Sache bei der unwissenden Masse, indem sie sagten: "Die Prophezeiungen beziehen sich nicht auf Jesus, sondern auf den Verheißenen, der später, unter den in der Thora niedergeschriebenen Umständen kommen wird." Einige dieser Umstände waren, daß er ein Königreich haben muß, daß er auf dem Throne Davids sitzen, das Gesetz der Thora durchsetzen und solche Gerechtigkeit offenbaren muß, daß Wolf und Lamm an der gleichen Quelle zusammenkommen.

Auf solche Weise hinderten sie das Volk daran, Christus zu erkennen.

¹ Kapitel 11, Vers 3,

#78



#79

+14. Kapitel

GEISTIGE BEWEISE

In dieser stofflichen Welt ist die Zeit in Zyklen eingeteilt; die Erde ändert sich im Wandel der Jahreszeiten, und für die Menschen gibt es Fortschritt, Rückgang und Erziehung. Zu einer Zeit ist es Frühling, zu einer anderen Herbst, dann wieder die Jahreszeiten des Sommers oder des Winters.

Der Frühling bringt die wachstumspendenden Regenwolken und den würzigen Hauch des belebenden Frühlingswindes. Die Luft ist lind, der Regen fällt, die Sonne scheint, befruchtende Winde wehen, die Welt wird neu belebt, und der Odem des Lebens wirkt sichtbar in Pflanzen, Tieren und Menschen. Das irdische Sein wechselt von einem Zustand in den anderen. Alles wird mit einem neuen Gewand bekleidet, und die dunkle Erde bedeckt sich mit Pflanzen; Berge und Ebenen legen ein grünes Kleid an, Bäume tragen Blätter und Blüten, Gärten bringen Blumen und duftende Kräuter hervor. Die Welt wird zu einer anderen und von lebenspendendem Geist erfüllt. Die Erde war ein lebloser Körper; sie findet einen neuen Geist und bringt endlose Schönheit, Lieblichkeit und Frische hervor. So wird der Frühling zur Ursache neuen Lebens und schenkt einen neuen Geist.

Es folgt der Sommer, die Wärme nimmt zu, Wachstum und Entwicklung erreichen ihren Höhepunkt. Die Lebenskraft im Pflanzenreich erreicht ihren höchsten Stand, die Frucht erscheint, und die Zeit der Ernte naht; der Same wurde zur Garbe, und Nahrung wird für den Winter gespeichert.

Dann kommt der ungestüme Herbst, wo ungesunde, unfruchtbare Winde wehen; es ist die Jahreszeit der Krankheit, alles welkt dahin, und die Balsamluft wird verunreinigt. Die linden Frühlingslüfte sind zu Herbstwinden geworden, das üppige Grün der Bäume färbt sich und vergeht, die Blumen und duftenden Kräuter welken dahin, und die prangenden Gärten werden öde und leer.

Der Winter mit Kälte und Stürmen schließt sich an. Es schneit, regnet, hagelt, stürmt, donnert und blitzt¹, alles friert und erstarrt; die Pflanzen sterben, und die Tiere liegen darnieder und sind elend.

¹ Im Orient treten Gewitter fast ausschließlich im Winter auf.

#80

Wenn es soweit gekommen ist, erscheint wieder ein seelenerquickender Frühling; ein neuer Zyklus bricht an. Der Lenz kehrt wieder in aller Pracht und Herrlichkeit und herrscht mit neuem Blühen und junger Schönheit in Berg und Tal. Wiederum wird die Erscheinungsform der Geschöpfe erneuert, und alles Erschaffene lebt von neuem auf. Körper wachsen und entfalten sich, Felder und öde Flächen werden grün und fruchtbar, Bäume blühen, und der Frühling des vergangenen Jahres kehrt in größter Fülle und Pracht wieder. So ist der Kreislauf und die Aufeinanderfolge des Lebens, und so soll es auch sein. So ist der Zyklus und Umlauf in der stofflichen Welt.

Mit den geistigen Zyklen der Propheten ist es das gleiche. Denn der Tag des Erscheinens der heiligen Offenbarer ist geistiger Frühling, göttlicher Glanz, himmlische Gnade, Odem des Lebens und Aufgang der Sonne der Wahrheit. Der Geist der Menschen wird belebt, ihre Herzen werden erquickt und gekräftigt, die Seelen zum Guten geführt, alles Sein kommt in Fluß, und die menschliche Natur wird heiterer und wächst und entwickelt gute Eigenschaften und Fähigkeiten. Der Fortschritt ist allgemein, und es gibt ein Wiedererwachen, aber auch Wehklagen; denn es ist der Tag des Gerichts, die Zeit der Unruhe und der Trübsal, aber gleichzeitig auch die Zeit der Freude, der Glückseligkeit und höchster Liebe.

Dann mündet der lebengebende Frühling in den fruchtbringenden Sommer. Das Wort Gottes wird entfaltet, das göttliche Gesetz verbreitet; alle Dinge erreichen Vollkommenheit. Der Tisch des Herrn ist gedeckt, der heilige Odem durchweht den Osten und den Westen, die göttlichen Lehren erfüllen die Welt, die Menschen werden gebildet, beispiellose Erfolge werden ins Leben gerufen, weltumspannender Fortschritt wird den Menschen geschenkt, und die göttlichen Gnadengaben umfassen alles. Die Sonne der Wahrheit erhebt sich mit der größten Kraft und Wärme vom Horizont des Königreiches. Wenn sie ihren Höhepunkt erreicht, beginnt sie sich zu neigen und niederzusteigen, und dem geistigen Sommer folgt der Herbst, wo Wachstum und Entfaltung aufhören. Lüfte werden zu verderblichen Winden, und die ungesunde Jahreszeit vernichtet die Schönheit und Frische der Gärten, Lauben und Felder. Das heißt, Liebe und Zuneigung bleiben nicht, himmlische Eigenschaften ändern sich, das Strahlen der Herzen wird getrübt, die Geistigkeit der Seelen wandelt sich, Tugenden werden zu Lastern, und Heiligkeit und Reinheit schwinden dahin. Nur der Name der Religion Gottes bleibt und der äußerliche Brauch der göttlichen Lehren. Die Grundlagen der Religion Gottes werden untergraben und vernichtet, und nichts bleibt als Riten und Zeremonien. Spaltungen bilden sich, Festigkeit wandelt sich in Unbeständigkeit und der Geist wird wie tot; die Herzen werden matt, die Seelen träge, der Winter ist da; das bedeutet, daß die Kälte der Unwissenheit die Welt umfaßt und die Finsternis der menschlichen Fehler die Oberhand gewinnt. Danach folgen Gleichgültigkeit, Ungehorsam, Rücksichtslosigkeit, Trägheit, Gemeinheit, tierische Triebe und steinähnliche Kälte und Gefühllosigkeit. Es ist wie die Jahreszeit des Winters, wenn die Erde, der Wirkung der Sommerwärme beraubt, trostlos und düster wird. Wenn die Welt des Verstandes und der Gedanken an diesem Punkt anlangt, gibt es nur noch unaufhörlichen Tod und immerwährendes Nichtsein.

#81

Nachdem die Zeit des Winters ihren Sinn erfüllt hat, kehrt der geistige Frühling zurück, und ein neuer Zyklus erscheint. Geistige Lüfte wehen, ein leuchtender Morgen bricht an, göttliche Wolken spenden Regen, die Strahlen der Sonne der Wahrheit scheinen, die erschaffene Welt erlangt frisches Leben, und sie wird in ein wunderbares Gewand gekleidet. Alle Kennzeichen und Gaben des vergangenen Frühlings erscheinen wieder, vielleicht mit noch größerem Glanz in dieser neuen Jahreszeit.

Die geistigen Zyklen der Sonne der Wahrheit gleichen den Zyklen der stofflichen Sonne, fortwährend sind sie in Kreislauf und Erneuerung. Die Sonne der Wahrheit hat wie die Sonne am Himmel ungezählte Auf- und Untergangsorte: Einmal geht diese im Zeichen des Krebses auf, ein anderes Mal im Zeichen der Waage oder des Wassermanns, und wieder ein anderes Mal schickt sie ihre Strahlen vom Zeichen des Widders her. Aber die Sonne ist eine Sonne und eine einzige Wirklichkeit; kluge Menschen lieben die Sonne selbst und stehen nicht im Bann ihrer Auf- und Untergangsorte. Die Einsichtigen suchen die Wahrheit, nicht aber den Ort ihrer Erscheinung oder ihres Aufdämmerns; darum verehren sie die Sonne an jedem Punkt des Tierkreises, an dem sie aufgeht, und sie suchen die Wahrheit in jeder heiligen Seele, die sie offenbart. Solche Menschen gelangen immer zur Wahrheit und sind nicht abgeschlossen von der Sonne der göttlichen Welt. Wer die Sonne liebt und das Licht sucht, wendet sich immer der Sonne zu, ob sie im Zeichen des Widders scheint, ihre Gaben im Zeichen des Krebses spendet oder im Zeiten der Zwillinge leuchtet. Die Unwissenden und Nichtunterrichteten aber sind in die Zeichen des Tierkreises verliebt und sind gefesselt und gebannt von den Aufgangspunkten, nicht von der Sonne selber. Als sie im Zeichen des Krebses war, wandten sie sich diesem zu, obgleich später die Sonne zum Zeichen der Waage wanderte; weil sie das Zeichen liebten, kehrten sie sich diesem zu und schlossen sich ihm an, und sie wurden der Wirkungen der Sonne beraubt, nur weil diese ihren Ort gewechselt hatte. Zum Beispiel schickte die Sonne der Wahrheit einst ihre Strahlen im Zeichen Abrahams aus, dann brach sie im Zeichen Mose auf und erhellte den Horizont; später ging sie mit der größten Macht und Herrlichkeit im Zeichen Christi auf. Die Wahrheitssucher verehrten jene Wahrheit, wo immer sie sie sahen, aber die, die an Abraham hingen, waren ihrer Einwirkung beraubt, als sie auf dem Berge Sinai erschien und die Wirklichkeit Mose beleuchtete. Und so waren die, die sich an Moses festhielten, verschlossen, als die Sonne der Wahrheit mit hellstem Licht und göttlichem Glanz von Christus ausging; und so geht es weiter.

#82

Der Mensch muß ein Sucher nach der Wahrheit sein; und er wird sie in jedem der geheiligten Wesen finden. Er muß hingerissen und bezaubert sein und hingezogen zu den göttlichen Gnadengaben; er soll dem Schmetterling gleichen, der das Licht liebt, in welcher Lampe es auch strahlt, und sein wie die Nachtigall, die trunken ist von der Rose, in welchem Garten sie auch blühen mag.

Wenn die Sonne im Westen aufginge, sie wäre doch die Sonne; man darf sich nicht vor ihr wegen ihres Aufgangspunktes verschließen oder den Westen immer als Untergangsort ansehen. Ebenso muß man nach den himmlischen Gnadengaben schauen und die göttliche Morgenröte suchen. Überall, wo sie erscheint, soll man ihr bedingungsloser Verehrer sein. Denke daran, daß die Juden, wenn sie sich nicht nur am Horizont Mose festgehalten, sondern auf die Sonne der Wahrheit geblickt hätten, zweifellos die Sonne am Aufgangsort der Wirklichkeit Christi in größtem göttlichem Glanze erkannt hätten. Aber wehe, tausendmal wehe! Indem sie sich an die äußerlichen Worte Mose hielten, gingen sie der göttlichen Gnade und des himmlischen Glanzes verlustig.

#83



#84

+15. Kapitel

ÜBER DEN WAHREN REICHTUM DES SEINS

Würde und Bedeutung alles Erschaffenen hängen von Ursachen und begleitenden Umständen ab.

Vortrefflichkeit, Schmuck und Vollkommenheit der Erde bestehen darin, durch die Gaben der Frühlingswolken grün und fruchtbar zu sein. Pflanzen wachsen, Blumen und duftende Kräuter entstehen, fruchttragende Bäume kommen in Blüte und bringen frische und köstliche Früchte hervor. Gärten erblühen prächtig, die Auen stehen in bunter Zier, Berge und Felder legen grüne Kleider an, und Gärten, Wiesen, Dörfer und Städte legen den schönsten Staat an. Darin liegt das größte Glück des Mineralreichs.

Der höchste Sinn und die Vollkommenheit des Pflanzenreichs finden sich darin, daß ein Baum am Ufer eines Baches mit klarem Wasser wachsen kann, daß frische Winde über ihn wehen und die Sonnenstrahlen auf ihn fallen, daß ein Gärtner ihn pflegt und er sich Tag für Tag entfaltet und Früchte trägt. Sein wahres Glück aber ist sein Aufstieg zum Tier- und Menschenreich, indem seine Früchte das ersetzen, was im Körper von Tier und Mensch verbraucht wurde.

Das Wesentliche für das Tierreich ist, vollkommene Glieder, Organe und Kräfte zu besitzen und alle Bedürfnisse stillen zu können. Dies ist seine Hauptzierde, seine Würde und Bedeutung. So ist es das größte Glück für ein Tier, eine grüne und fruchtbare Wiese, klares, fließendes Wasser und einen schönen, grünen Wald zu haben. Wenn für all dies gesorgt ist, kann es kein größeres Glück geben. Baut zum Beispiel ein Vogel sein Nest in einem grünen, fruchtbaren Wald, an schöner, hochgelegener Stelle, auf einem starken Baum und an der Spitze eines luftigen Astes, und findet er alles, was er an Körnern und Wasser braucht, so ist dies für ihn vollendetes Glück.

Aber das wahre Glück für die Tiere besteht im Aufstieg vom Tier zum Menschenreich, wie die Kleinlebewesen, die durch Wasser und Luft in den Körper des Menschen eindringen und von ihm aufgenommen werden und das ersetzen, was von ihm verbraucht wurde.

#85

Dies ist die größte Ehre und das wahre Glück für das Tierreich; keine größere Ehre ist für es denkbar. - Es ist also deutlich und klar, daß Fülle, Behagen und materieller Überfluß das volle Glück der Minerale, Pflanzen und Tiere bilden. Kein Reichtum, kein Vermögen, keine Bequemlichkeit und kein Behagen kommen dem Überfluß des Vogels gleich; all die Bereiche der Felder und Berge sind seine Wohnung, alle Körner und Früchte seine Nahrung und seine Schätze, und alles Land mit Dörfern, Wiesen, Weiden, Wäldern und einsamen Gegenden ist sein Besitz. Wer ist nun reicher, dieser Vogel oder der Vermögendste unter den Menschen? Soviel auch der Vogel Körner verwenden oder verschenken mag, sein Überfluß vermindert sich nicht.

Damit ist klar, daß Würde und Wert des Menschen mehr sein müssen als weltlicher Reichtum; materielle Annehmlichkeiten sind nur ein Zweig, aber die Wurzel menschlicher Größe sind gute Eigenschaften und Tugenden, die der Schmuck seiner Wirklichkeit sind. Dieser liegt in den göttlichen Erscheinungen, den himmlischen Gaben, den edlen Gefühlen und in der Liebe und Erkenntnis Gottes. Er ist umfassendes Wissen, geistige Wahrnehmung, wissenschaftliche Entdeckungen, Gerechtigkeit, Unparteilichkeit, Wahrhaftigkeit, Güte, natürlicher Mut und angeborene Seelenstärke; Rücksicht und Einhaltung von Verträgen und Bündnissen; Geradheit unter allen Umständen und Dienst an der Wahrheit in allen Lebenslagen; Aufopferung für das allgemeine Wohl und Güte und Achtung für alle Völker; Gehorsam gegenüber den göttlichen Lehren und Dienst im Reiche Gottes; Lenkung der Menschen und Erziehung der Nationen und Rassen. Dies ist das wahre Glück der Menschenwelt! Dies ist die Größe der Menschen in dieser Welt! Dies ist immerwährendes Leben und himmlische Ehre!

Solche Tugenden können nur durch die Kraft Gottes und die göttlichen Lehren im Menschen lebendig werden; denn sie bedürfen übernatürlicher Kraft, um offenbar zu werden. Es kann sein, daß in der natürlichen Welt Spuren dieser Vollkommenheit erscheinen, aber sie sind ohne Beständigkeit und Dauer; sie gleichen Strahlen der Sonne auf einer Mauer. Gott in Seiner Güte hat dem Menschen eine leuchtende Krone aufs Haupt gesetzt. Darum müssen wir uns bemühen, daß ihre strahlenden Edelsteine in der Welt sichtbar werden.

#86


#87

ZWEITER TEIL

ERKLÄRUNGEN EINIGER CHRISTLICHER THEMEN

#88

#89

+16. Kapitel

ES BEDARF ANSCHAULICHER SINNBILDER UND GLEICHNISSE, UM VERSTANDESBEGRIFFE KLARZUMACHEN

Der Angelpunkt für das Verständnis der Fragen, die wir bereits behandelt haben oder noch besprechen werden, um den Kern der Probleme deutlich zu machen, ist der Umstand, daß es zwei Arten menschlicher Erkenntnis gibt. Die eine ist die Erkenntnis der durch die Sinne wahrnehmbaren Dinge, das heißt der Erscheinungen, die Auge, Ohr, Geruchs-, Geschmacks- oder Tastsinn erfassen können und die gegenständlich oder konkret genannt werden. So wird die Sonne gegenständlich genannt, weil sie gesehen werden kann. Ebenso sind Töne erkennbar, weil das Ohr sie hört. Düfte sind wahrnehmbar, weil sie eingeatmet werden können und der Geruchssinn sie bemerkt. Speisen sind erkennbar, weil der Geschmackssinn sie als süß, sauer oder salzig empfindet. Hitze und Kälte sind faßbar, weil der Fühlsinn sie wahrnimmt. All dies nennt man sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit.

Die andere Art menschlicher Erkenntnis ist intelligibel - das heißt, sie ist eine Wirklichkeit der Geisteskraft, ist nicht an äußere Form und Raum gebunden und nicht durch die Sinne wahrnehmbar. Zum Beispiel ist die Kraft des Verstandes nicht körperhaft; keine der inneren menschlichen Fähigkeiten ist ein Gegenstand, im Gegenteil, sie sind intelligible Wirklichkeit. So ist die Liebe eine geistige und keine gegenständliche Wirklichkeit, denn das Ohr hört diese Wirklichkeit nicht, das Auge sieht sie nicht, der Geruchssinn bemerkt sie nicht, der Geschmack nimmt sie nicht wahr und der Tastsinn fühlt sie nicht. Auch die Äthersubstanz, deren Kräfte in der Physik Wärme, Licht, Elektrizität und Magnetismus genannt werden, ist eine intelligible Wirklichkeit und kann nicht durch die Sinne wahrgenommen werden. Ebenso ist auch die Natur in ihrem innersten Wesen eine intelligible und sinnlich nicht erkennbare Wirklichkeit, desgleichen der menschliche Geist.

#90

Wenn man diese intelligiblen Wirklichkeiten klarmachen will, muß man sie durch anschauliche Sinnbilder ausdrücken, weil es im äußeren Sein nichts außer Stofflichem gibt. Um also die Wirklichkeit des Geistes, seine Seins- und Erscheinungsweise zu erklären, bedarf es der Form sinnlich wahrnehmbarer Dinge, denn in der Welt des Stoffes ist nur Gegenständliches vorhanden. Zum Beispiel gehören Traurigkeit und Freude zu den intelligiblen Gegebenheiten. Wenn man diese unkörperlichen Zustände beschreiben will, sagt man: "Mein Herz ist schwer" oder "Mein Herz ist leicht", obwohl sich das Gewicht des menschlichen Herzens dabei nicht ändert. Es ist ein seelischer oder geistiger Zustand, den zu veranschaulichen man zu sinnlich wahrnehmbaren Bildern greifen muß. Ein anderes Beispiel: Man sagt: "Dieser Mensch ist weit fortgeschritten", obgleich er an Ort und Stelle verbleibt. Oder: "Jener hat eine hohe Stellung", obwohl er wie jeder andere auf der Erde einhergeht. Diese Höhe und dieser Fortschritt bezeichnen geistige Zustände und intelligible Wirklichkeiten; sie klarzumachen, muß man seine Zuflucht zu anschaulichen Formen nehmen, weil es in der Welt der Erscheinung nur sinnlich Greifbares gibt.

So ist das Sinnbild des Wissens Licht und der Unwissenheit Dunkelheit. Aber ist Wissen sichtbares Licht und Unwissenheit sinnlich wahrnehmbare Dunkelheit? Nein, sie sind nur Symbole für intelligible Gegebenheiten. Wenn man sie begrifflich darstellen will, nennt man das Wissen Licht und die Unwissenheit Dunkelheit. Man sagt auch: "Mein Gemüt war düster, dann wurde es licht." Das Licht des Wissens und die Dunkelheit der Unwissenheit sind intelligible und nicht stoffliche Wirklichkeiten, aber wenn wir in der stofflichen Welt nach Erklärungen suchen, müssen wir ihnen eine gegenständliche Form geben.

Es ist also augenfällig, daß die Taube, die auf Christus herabkam, keine körperliche Taube, sondern ein geistiger Zustand war, der, um verstanden zu werden, durch ein anschauliches Bild dargestellt wurde. So heißt es im Alten Testament, daß Gott in einer Feuersäule erschien. Damit ist nicht die materielle Form gemeint, sondern es ist eine intelligible Wirklichkeit, die durch ein faßbares Gleichnis ausgedrückt wurde.

Christus sagte: "Der Vater ist im Sohn und der Sohn ist im Vater." War Christus im inneren Gottes oder Gott im inneren Christi? Nein, bei Gott! Dies ist vielmehr ein intelligibler Zustand, der durch eine den Sinnen verständliche Umschreibung erklärt wurde.

#91

Wir wollen nun Bahá'u'lláhs Worte auslegen, wenn Er sagt: "O König, wahrlich, ich war wie jeder Mensch und schlief auf Meinem Lager. Da wehte der Odem des Allerherrlichsten über Mich hin und schenkte Mir die Erkenntnis dessen, was war. Dies kommt nicht von Mir, sondern von Ihm, dem Herrlichen, dem Weisen."¹ Dies ist der Vorgang der Offenbarung; es ist keine körperliche, sondern geistige Wirklichkeit, frei und losgelöst von der Zeit, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; es ist eine Erklärung, ein Gleichnis, ein bildlicher Ausdruck, und darf nicht nach dem Buchstaben ausgelegt werden; es ist ein Vorgang, der vom Menschen nicht begriffen werden kann. Schlafen und Wachen bedeuten den Übergang von einem Bewußtseinszustand in einen anderen. Schlaf ist die Seinsweise der Ruhe, Wachsein die der Tätigkeit; Schlaf ist der Zustand des Schweigens, Wachsein der des Sprechens; Schlaf bedeutet die Verfassung des Verborgenseins, Wachsein die des Offenbarwerdens.

Im Persischen und Arabischen wird zum Beispiel die Redewendung gebraucht, daß die Erde schlief, der Frühling kam und sie erweckte; oder die Erde war tot, und der Frühling kam und belebte sie wieder. Diese Äußerungen sind bildliche Ausdrücke, Gleichnisse, symbolische Erklärungen in der Welt der Bedeutungen.

Kurz, die heiligen Offenbarer waren und werden immer leuchtende Wirklichkeit sein; weder wandeln noch ändern sie sich in ihrem Wesen. Ehe sie ihre Sendung erklären, sind sie stumm und still wie ein Schläfer, und nach ihrer Offenbarung sprechen sie und sind erleuchtet wie einer, der erwacht ist.

¹ Aus einem Brief an den Sháh von Persien.



#92

+17. Kapitel

DIE GEBURT CHRISTI

Frage: Wie ist die Geburt Christi durch den Heiligen Geist zu verstehen?

Antwort: In dieser Frage widersprechen sich die Theologen und die Materialisten. Die Theologen glauben, daß Christus durch den Heiligen Geist geboren wurde, die Materialisten denken, daß dies unmöglich und unzulässig sei, und daß Er zweifellos einen menschlichen Vater gehabt habe.

Im Qur'án heißt es: "Wir sandten zu ihr unseren Geist in der Gestalt eines vollkommenen Mannes."¹ Das bedeutet, daß der Heilige Geist menschliche Gestalt annahm - wie ein Bild im Spiegel hervorgerufen wird - und zu Maria sprach.

¹ Súrih 19:17

Die Materialisten glauben, daß eine Ehe sein muß, und sagen, daß ein lebendiger Körper nicht von einem körperlosen Wesen gezeugt werden könne und daß ohne Mann und Frau eine Befruchtung nicht stattfinden könne. Sie denken, daß dies nicht nur beim Menschen, sondern auch beim Tier und den Pflanzen unmöglich sei. Denn die Paarung von Männlichem und Weiblichem bestehe bei allem lebendigen und pflanzlichen Sein. Diese Paarung in der Schöpfung wird sogar im Qur'án dargelegt: "Preis sei Ihm, Der zu Paaren erschaffen hat alles, was auf der Erde wächst, und die Menschen auf ihr und manches, was sie nicht erkennen."¹ Das heißt, Menschen, Tiere und Pflanzen, alle sind gepaart - "und es gibt kein Ding, das Wir nicht in Paaren zu zweien erschaffen hätten." Das heißt, die ganze Natur wurde durch Paarung erschaffen.

¹ Súrih 36:36

Kurz, die Materialisten sagen, ein Mensch ohne menschlichen Vater sei nicht denkbar. Darauf antworten die Theologen: "Dies ist nicht unmöglich und unausführbar. Es ist nur noch nicht gesehen worden, es besteht ein großer Unterschied zwischen einer unmöglichen und einer unbekannten Sache. Zum Beispiel war in früheren Zeiten der Telegraph, der den Osten und Westen verbindet, unbekannt, aber nicht unmöglich; auch die Photographie und der Phonograph waren unbekannt, aber nicht unmöglich."

#93

Die Materialisten beharren auf ihrer Meinung, und die Theologen antworten: "Ist diese Erde schon immer gewesen oder ist sie entstanden?" Die Materialisten erwidern, daß es nach dem Stand der Wissenschaften und entscheidender Entdeckungen festliege, daß sie entstanden sei. Zuerst war sie eine feurige Kugel, die sich allmählich abkühlte und eine Kruste bildete; dann wuchsen auf dieser Kruste zuerst Pflanzen, später entwickelten sich Tiere, und zuletzt trat der Mensch in Erscheinung.

Die Theologen entgegnen: "Aus eurer Darstellung geht also klar und deutlich hervor, daß auf der Erde die Menschheit in Erscheinung trat und nicht schon ewig bestand. Demnach hatte der erste Mensch sicherlich weder Vater noch Mutter, denn das Dasein des Menschen ist entstanden. Ist die Erschaffung des Menschen ohne Vater und Mutter, selbst wenn er sich allmählich entwickelt hat, nicht schwerer, als wenn er einfach ohne Vater ins Leben gerufen worden wäre? Da ihr zugebt, daß der erste Mensch - sei es nun allmählich oder plötzlich - ohne Vater und ohne Mutter ins Dasein kam, kann es keinen Zweifel geben, daß auch ein Mensch ohne menschlichen Vater möglich und zulässig ist; ihr könnt dies nicht als unmöglich ansehen, sonst seid ihr unlogisch. Wenn man zum Beispiel sagt, daß diese Lampe einmal ohne Docht und Öl angezündet worden wäre, und dann behauptet, daß es unmöglich sei, sie ohne Docht zum Leuchten zu bringen, so ist dies unlogisch." Christus hatte eine Mutter; der erste Mensch hatte nach der Überzeugung der Materialisten weder Vater noch Mutter.



#94

+18. Kapitel

DIE GRÖSSE CHRISTI LIEGT IN SEINER VOLLKOMMENHEIT

Ein großer Mann ist groß, gleichgültig, ob er einen menschlichen Vater hat oder nicht. Wenn es ein Vorzug wäre, keinen Vater zu haben, so wäre Adam größer und erhabener als alle Propheten und Gottgesandten, denn er hatte weder Vater noch Mutter. Die Ursache der Größe und Erhabenheit ist der Glanz und die Gnade göttlicher Vollkommenheit. Die Sonne ist aus Substanz und Form geschaffen, die man mit Vater und Mutter vergleichen kann, und sie ist reine Vollendung; die Finsternis aber hat weder Substanz noch Form, weder Vater noch Mutter, und sie ist absolute Unvollkommenheit. Die Substanz von Adams körperlichem Leben war Erde, diejenige Abrahams aber reiner menschlicher Samen; sicherlich ist reiner und keuscher Samen besser als Erde.

Mehr noch, im Evangelium des Johannes, im ersten Kapitel, Vers 12 und 13, heißt es: "Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, die an seinen Namen glauben; welche nicht von dem Gelübde noch von dem Willen des Fleisches noch von dem Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren sind."

Aus diesen Worten geht klar hervor, daß das Wesen eines Jüngers auch nicht durch physische Kraft, sondern durch die geistige Wirklichkeit verursacht wurde. Die hohe Stellung und die Größe Christi liegen nicht darin, daß Er keinen Vater hatte, sondern in Seinen Vollkommenheiten, Seinen Gnadengaben und in Seiner himmlischen Herrlichkeit. Wenn die Größe Christi in Seiner Vaterlosigkeit gelegen hätte, müßte Adam größer gewesen sein, denn er hatte weder Vater noch Mutter. Im Alten Testament steht: "Und Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenkloß, und Er blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele."¹ Beachte, es heißt, daß Adam durch den Geist des Lebens erschaffen wurde. Darüber hinaus sind die Worte des Johannes über die Jünger ein Beweis dafür, daß auch sie vom himmlischen Vater sind. Es ist also klar erwiesen, daß die geheiligte Wirklichkeit, daß heißt das wirkliche Sein eines jeden großen Menschen, von Gott kommt und durch den Odem des Heiligen Geistes ins Leben tritt.

¹ 1. Mose 2:7

#95

Der Sinn ist: Wenn es der größte Vorzug des Menschen wäre, keinen menschlichen Vater zu haben, dann wäre Adam größer als alle anderen, weil er weder Vater noch Mutter hatte. Ist es besser für den Menschen, aus lebendiger Substanz oder aus Erde erschaffen zu werden? Sicher ist es besser, aus lebendiger Substanz erschaffen zu werden. Christus aber wurde vom Heiligen Geist geboren und ins Leben gerufen.

Abschließend: Der hohe Rang und der Ehrenplatz der heiligen Seelen und der göttlichen Offenbarer kommen von ihren Vollkommenheiten und Gnadengaben und ihrer himmlischen Herrlichkeit, und von nichts anderem.



#96

+19. Kapitel

DIE TAUFE CHRISTI

Frage: Im Matthäusevangelium heißt es im 3. Kapitel, Vers 13-15: "Zu der Zeit kam Jesus aus Galiläa an den Jordan zu Johannes, daß Er sich von ihm taufen ließe. Aber Johannes wehrte Ihm und sprach: Ich bedarf wohl, daß ich von Dir getauft werde, und Du kommst zu mir? Jesus aber antwortete und sprach zu ihm: Laß es jetzt also geschehen, denn so gebührt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen. Da ließ er's Ihm zu."

Wieso brauchte Christus, Der Selbst jede wesentliche Vollkommenheit besaß, die Taufe, und was ist die Weisheit davon?

Antwort: Ursprünglich war die Taufe eine Kultwaschung zum Zeichen der Reue. Johannes gab den Menschen Ermahnungen und guten Rat und führte sie so zur Reue, dann taufte er sie. Es ist also klar, daß diese Taufe ein Symbol der Reue über alle Sünden war, wie es in den Worten zum Ausdruck kommt: "O Gott, wie mein Körper von äußerlichem Schmutz rein und geheiligt wurde, ebenso reinige und heilige meinen Geist vom Schmutz der irdischen Welt, der der Schwelle Deiner Einheit unwürdig ist!" Reue bedeutet Rückkehr vom Ungehorsam zum Gehorsam. Der Mensch, der von Gott fern und Seiner beraubt war, bereut und unterzieht sich der Reinigung. Es ist ein Sinnbild, das bedeutet: "O mein Gott, mache mein Herz gut und rein, läutere und heilige es von allem außer meiner Liebe zu Dir!"

Da Christus wünschte, daß dieser Brauch des Johannes zu jener Zeit von allen geübt werde, befolgte Er ihn Selbst, um dadurch die Menschen zur Besinnung zu rufen und die Vorschrift des alten religiösen Gesetzes zu erfüllen. Obwohl die Kultwaschung zum Zeichen der Reue bei Johannes Brauch war, wurde sie tatsächlich schon früher in der Religion Gottes ausgeübt.

Christus brauchte die Taufe nicht; da sie aber zu jener Zeit ein allgemeiner und vorbildlicher Brauch war und auf die frohe Botschaft vom Königreich hinwies, unterzog Er Sich ihr. Doch sagte Er später, daß die wahre Taufe nicht mit tatsächlichem Wasser, sondern mit Wasser und mit Geist geschehen solle.¹ Hier bedeutet Wasser kein materielles Wasser; denn an anderer Stelle wird ausdrücklich erwähnt, daß die Taufe mit Geist und mit Feuer² sein soll; hieraus wird klar, daß weder sinnlich wahrnehmbares Feuer noch Wasser gemeint ist, denn
eine Taufe mit Feuer ist unmöglich.

¹ Markus 1:8 , Johannes 1:33 ² Matthäus 3:11

#97

Geist bedeutet also göttliche Güte, Wasser Erkenntnis und Leben, und Feuer die Liebe Gottes. Denn irdisches Wasser reinigt nicht das menschliche Herz, sondern nur den Körper. Aber das himmlische Wasser und der Geist, der Erkenntnis und Leben bedeutet, machen das Herz des Menschen gut und rein; das Herz, das an der Gnadengabe des Heiligen Geistes teilhat, wird geheiligt und gut und rein. Das heißt, die Wirklichkeit des Menschen wird von den Befleckungen der irdischen Welt gewaschen und geheiligt. Diese natürlichen Befleckungen sind böse Eigenschaften, wie Zorn, Leidenschaft, Materialismus, Stolz, Lüge, Heuchelei, Betrug, Egoismus und ähnliches.

Der Mensch kann sich nicht selbst aus dem Taumel der sinnlichen Leidenschaften befreien ohne die Hilfe des Heiligen Geistes. Darum wurde gesagt, die Taufe mit Geist, Wasser und Feuer sei notwendig und unerläßlich; und Geist bedeutet hier göttliche Gnade, Wasser Erkenntnis und Leben, und Feuer die Liebe Gottes. Mit diesem Geist, Wasser und Feuer muß der Mensch getauft werden, damit er die ewige Gnade empfange. Was wäre sonst der Nutzen der Taufe mit materiellem Wasser? Nein, jene Taufe mit Wasser war ein Sinnbild für die Reue und das Streben nach Vergebung der Sünden.

Im Zeitalter Bahá'u'lláhs aber ist dieses Symbol nicht mehr nötig, denn seine Wirklichkeit - die Taufe durch den Geist und die Liebe Gottes - wurde bewiesen und verstanden.



#98

+20. Kapitel

DIE TAUFE

Frage: Ist die Reinigung durch die Taufe nützlich und nötig oder ist sie nutzlos und überflüssig? Warum wurde sie, wenn sie nützlich ist, abgeschafft, und warum wurde sie, wenn sie überflüssig ist, von Johannes ausgeübt?

Antwort: Änderungen der Lebensbedingungen, Wandel und Wechsel der Zeiten gehören zu den Wesensnotwendigkeiten der erschaffenen Welt, und diese Wesensnotwendigkeiten können von der Wirklichkeit des Seins nicht getrennt werden. So ist zum Beispiel eine Scheidung der Hitze vom Feuer, der Feuchtigkeit vom Wasser, des Lichtes von der Sonne völlig unmöglich, denn sie sind deren unabdingbare Wesenszüge. Weil Wechsel und Änderung der Umstände zu den Notwendigkeiten dieser Welt gehören, werden auch die Gesetze dem Wandel und Umbruch der Zeit entsprechend abgeändert und umgeformt. Zum Beispiel wurde zur Zeit Mose Sein Gesetz nach den damaligen Lebensbedingungen ausgerichtet und diesen angepaßt; zur Zeit Christi aber hatten sich jene Umstände so weit geändert und entwickelt, daß das mosaische Gesetz den menschlichen Bedürfnissen nicht mehr entsprach und angemessen war; darum wurde es aufgehoben. So brach Christus den Sabbat und verbot die Scheidung. Nach Christus haben vier Jünger, darunter Petrus und Paulus, den Genuß der von der Bibel verbotenen tierischen Nahrung erlaubt, mit Ausnahme des Fleisches der erwürgten und an Götzenaltären geopferten Tiere und des Blutes.¹ Auch das Verbot des Ehebruchs blieb bestehen. Diese vier Gebote blieben in Kraft. Später hat Paulus auch den Genuß des Fleisches erstickter Tiere, der Schlachtopfer an Götzenaltären und des Blutes erlaubt, und es blieb allein das Verbot des Ehebruchs bestehen. So schreibt Paulus im 14. Kapitel, Vers 14, des Römerbriefes: "Ich weiß und bin es gewiß in dem Herrn Jesus, daß nichts unrein ist an sich selbst; nur dem, der es für unrein hält, dem ist's unrein."

¹ Apostelgeschichte 15:20

#99

Auch im 1. Kapitel, Vers 15, des Paulusbriefes an Titus steht: "Den Reinen ist alles rein; den Unreinen aber und Ungläubigen ist nichts rein, sondern unrein ist beides, ihr Verstand und ihr Gewissen."

Dieser Wandel also, diese Veränderungen und die Aufhebung von Gesetzen kommen daher, daß die Zeit Christi mit der Zeit Mose nicht verglichen werden kann. Lebensbedingungen und Erfordernisse hatten sich grundsätzlich geändert und gewandelt. Darum wurden die früheren Gesetze aufgehoben.

Das Sein der Welt kann mit dem des einzelnen Menschen, und die Propheten und Gottgesandten können mit geschickten Ärzten verglichen werden. Ein menschliches Wesen verharrt nicht immer in ein und demselben Zustand; es kann von verschiedenen Krankheiten befallen werden, und jede Krankheit verlangt ein besonderes Heilmittel. Der geschickte Arzt wird nicht bei jeder Gesundheitsstörung und Krankheit das gleiche Mittel anwenden, sondern den verschiedenen Erfordernissen der Krankheiten und dem Befinden entsprechend wechselt er die Heilmittel und Arzneien. Der kluge Arzt wird also einem Menschen, der fieberkrank ist, zweifellos kühlende Mittel geben;¹ und wenn zu einer anderen Zeit sich der Zustand dieser Person geändert hat und sie nicht mehr fiebert, sondern fröstelt, läßt der Arzt zweifellos die kühlenden Mittel weg und wendet erwärmende an; diese Änderung und dieser Wechsel sind durch den Zustand des Patienten bedingt und sind ein offensichtlicher Beweis für die Geschicklichkeit des Arztes.

¹ Im Orient wird zwischen erwärmenden und kühlenden Nahrungs- und Heilmitteln unterschieden; sie gehen auf die griechisch-islámische ärztliche Ausdrucksweise zurück.

Überlege, könnten die Gesetze des Alten Testaments in unserer Zeit durchgeführt werden? Nein, bei Gott! Es wäre unmöglich und unausführbar; zweifellos hat Gott deshalb die Gesetze des Alten Testaments zur Zeit Christi aufgehoben. Bedenke auch, daß zur Zeit Johannes des Täufers die Menschen durch die Taufe zur inneren Besinnung gerufen und ermahnt wurden, alle ihre Sünden zu bereuen und das Kommen des Reiches Christi zu erwarten. Aber heute in Asien tauchen die Katholiken und die orthodoxe Kirche neugeborene Kinder in mit Olivenöl gemischtes Wasser, und viele von ihnen werden durch diesen Schock krank; während der Taufe wehren sie sich und werden aufgeregt. An anderen Orten wird nur die Stirn des Kindes vom Priester mit Taufwasser benetzt. Aber weder bei der ersten noch bei der zweiten Art haben die Kinder irgendwelchen geistigen Nutzen davon. Was wird also dadurch gewonnen? Andere Völker wundern sich und fragen, warum die Säuglinge ins Wasser getaucht werden, da dies weder die Ursache ihrer geistigen Erweckung noch ihres Glaubens oder der Bekehrung ist; es ist nur eine Gewohnheit, der man folgt. Zur Zeit Johannes des Täufers war dies nicht so; nein, Johannes ermahnte die Menschen zuerst, führte sie zur Reue über ihre Sünden und erfüllte sie mit der Sehnsucht, die Offenbarung Christi zu erwarten. Jeder, der die Taufe empfing und in vollkommener Unterwürfigkeit und Demut seine Sünden bereute, wusch und reinigte damit seinen Körper von äußerem Schmutz. In großem Sehnen, Tag und Nacht, erwartete er unaufhörlich das Erscheinen Christi und den Eintritt in das Reich des Geistes Gottes.¹

¹ d.h. Christi, Den die Muhammadaner häufig mit dem Titel Rúh'u'llúh, Geist Gottes, bezeichnen.

#100

Zusammengefaßt ist Unsere Meinung, daß Wandel und Wechsel der Lebensbedingungen und die Veränderung der Lebensnotwendigkeiten der verschiedenen Zeiten und Jahrhunderte zur Aufhebung von Gesetzen führen. Denn die Zeit kommt, in der diese Gesetze den Lebensbedingungen nicht länger angepaßt sind. Denke daran, wie grundverschieden die Bedingungen der Frühzeit von denen des Mittelalters und der Neuzeit sind. Könnte man die Gesetze aus den ersten Jahrhunderten in unserer Zeit durchführen? Es ist klar, daß dies unmöglich und unausführbar wäre. Ebenso werden, wenn einige Jahrhunderte vorübergegangen sind, die Erfordernisse der Gegenwart der Zukunft nicht mehr entsprechen, und zweifellos werden sie geändert und abgewandelt werden. In Europa werden die Gesetze fortwährend geändert und umgeformt; wie viele Gesetze gab es in den Organisationen und Regierungssystemen Europas in vergangenen Zeiten, die jetzt abgeschafft sind! An diesen Veränderungen und Abwandlungen sind die Schwankung und Entwicklung der Denkweise, der Lebensbedingungen und der Gebräuche schuld. Wenn es nicht so wäre, könnte die Menschenwelt nicht gedeihen.

#101

Zum Beispiel ist es ein Gesetz des Alten Testaments, daß ein Mensch, der den Sabbat bricht, getötet werde. Noch mehr, in der Thora gibt es zehn Gesetze mit Todesstrafe. Könnten diese Gesetze in unserer Zeit gehalten werden? Es ist klar, daß dies völlig unmöglich wäre. Folglich gibt es Abänderungen und Umformungen der Gesetze, was ein hinreichender Beweis für die überragende göttliche Weisheit ist.

Diese Frage erfordert tiefes Nachdenken. Dann wird die Ursache für diese Änderungen klar und offenbar.

Gesegnet die Menschen, die überlegen!



#102

+21. Kapitel

DIE SYMBOLE VON BROT UND WEIN

Frage: Christus sagte: "Ich bin das lebendige Brot, vom Himmel gekommen. Wer von diesem Brot essen wird, der wird leben in Ewigkeit."¹ Was bedeuten diese Worte?

¹ Johannes 6:51

Antwort: Dieses Brot bedeutet himmlische Speise und göttliche Vollkommenheit. "Wer von diesem Brot essen wird ... " besagt, wer sich der göttlichen Gnade erschließt, himmlisches Licht empfängt und an Christi Vollkommenheit teilhat, der gewinnt dadurch ewiges Leben. Auch mit dem Blut ist der Geist des Lebens und die göttliche Vollkommenheit, himmlischer Glanz und immerwährende Gnade gemeint. Denn alle Teile des menschlichen Körpers erhalten durch den Kreislauf des Blutes ihre Lebenskraft.

Im Johannesevangelium, Kapitel 6, Vers 26, steht geschrieben: "Wahrlich, wahrlich, Ich sage euch: Ihr suchet Mich nicht darum, daß ihr Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr von dem Brot gegessen habt und seid satt geworden."

Es ist klar, daß das Brot, das die Jünger aßen und von dem sie satt wurden, die himmlischen Gnadengaben waren; denn in Vers 33 desselben Kapitels heißt es: "Denn Gottes Brot ist das, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben." Es ist unmißverständlich, daß der Leib Christi nicht vom Himmel herab, sondern aus Marias Schoß gekommen ist; was aber vom göttlichen Reich herabgestiegen ist, war der Geist Christi. Weil die Juden glaubten, daß Christus Seinen Leib meinte, murrten sie und sprachen, wie es in Vers 42 desselben Kapitels berichtet wird: "Ist dieser nicht Jesus, Josephs Sohn, des Vater und Mutter wir kennen? Wie spricht er denn: ich bin vom Himmel gekommen?"

Überlege, wie klar es ist, daß Christus mit dem Brot des Himmels Seinen Geist, Seine Gnadengaben, Seine Vollkommenheit und Seine Lehren gemeint hat; denn in Vers 63 heißt es: "Der Geist ist's, der da lebendig macht; das Fleisch ist nichts nütze."

#103

Es ist deshalb offensichtlich, daß der Geist Christi eine Gnadengabe ist, die vom Himmel herabkommt; jeder, der von diesem Geist Licht in Fülle, das heißt die himmlischen Lehren, empfängt, findet ewiges Leben. Darum wird in Vers 35 gesagt: "Jesus aber sprach zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu Mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an Mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten."

Beachte, daß Er "zu Mir kommen" als essen und "an Mich glauben" als trinken bezeichnete. Es ist demnach eindeutig erwiesen, daß mit der himmlischen Nahrung die göttlichen Gnadengaben, der geistige Glanz, die himmlischen Lehren und die umfassende Bedeutung Christi gemeint sind. Essen heißt "Ihm nahe kommen", und trinken heißt "an Ihn glauben". Denn Christus hatte einen natürlichen Leib und eine himmlische Gestalt. Der irdische Leib wurde gekreuzigt, die himmlische Gestalt aber ist lebendig und ewig und wird zur Ursache ewigen Lebens. Sein natürlicher Leib war menschlicher Natur, Seine himmlische Gestalt aber göttlicher Natur. Es gibt Menschen, die denken, daß das Abendmahlsbrot die Wirklichkeit Christi sei und daß Gott und der Heilige Geist in dieses eingehen und darin enthalten seien. Wenn aber das Brot genommen ist, löst es sich nach wenigen Augenblicken auf und wird völlig verändert. Wie kann man sich so etwas vorstellen? Gott bewahre! Dies ist wahrlich reine Phantasie.

Um abzuschließen: Durch das Erscheinen Christi wurden die geheiligten Lehren, die ewige Gnade bedeuten, verbreitet; das Licht der Führung leuchtete auf, und der Geist des Lebens wurde der Menschheit geschenkt. Wer hierin Führung fand, wurde belebt, und wer auf dem falschen Wege verblieb, verfiel ewigem Tod. Das Brot, das vom Himmel herabkam, war der himmlische Leib Christi und Sein geistiges Wesen, von dem die Jünger aßen und durch das sie ewiges Leben fanden.

Die Jünger hatten oft von der Hand Christi Speise empfangen; warum wurde das letzte Abendmahl vor den anderen ausgezeichnet? Es ist offensichtlich, daß das himmlische Brot nicht das materielle Brot darstellt, sondern vielmehr die göttliche Nahrung des geistigen Leibes Christi, die göttlichen Gnadengaben und himmlischen Vollkommenheiten, an denen Seine Jünger teilhatten und von denen sie erfüllt wurden.

#104

Bedenke ferner, daß Christus, als Er das Brot segnete und es Seinen Jüngern mit den Worten "Dies ist mein Leib" gab, leiblich und persönlich gegenwärtig mit ihnen war. Er verwandelte Sich nicht in Brot und Wein; denn wenn Er das getan hätte, hätte Er nicht körperlich, sichtbar und in menschlicher Gestalt bei den Jüngern bleiben können.

Es ist also klar, daß Brot und Wein Symbole mit folgender Bedeutung waren: Ich gab euch Meine Segensgaben und Vollkommenheiten, und wenn ihr diese Gnade angenommen habt, habt ihr ewiges Leben gewonnen und seid eures Anteils an der himmlischen Nahrung teilhaftig geworden.



#105

+22. Kapitel

ÜBER WUNDER

Frage: Es wird von Wundern, die Christus vollbrachte, berichtet. Sind die Berichte über diese Wunder wirklich wörtlich zu nehmen oder haben sie eine andere Bedeutung? Die exakten Wissenschaften haben bewiesen, daß sich das Wesen der Dinge nicht ändert und daß alles Erschaffene einem umfassenden Gesetz und einer Ordnung unterworfen ist, von denen es nicht abweichen kann; etwas dem universalen Gesetz Widersprechendes ist daher unmöglich.

Antwort: Die heiligen Offenbarer sind die Quellen von Wundern und die Urheber wunderbarer Zeichen. Ihnen ist jede schwierige und unausführbare Sache möglich und leicht gemacht. Denn durch eine überirdische Macht gehen Wunder von ihnen aus, und mit dieser Kraft, die übernatürlich ist, beeinflussen sie die Welt der Natur. Von allen Offenbarern sind außergewöhnliche Dinge vollbracht worden.

Aber die heiligen Bücher haben ihre besondere Ausdrucksweise; und für die Offenbarer selbst haben diese Wunder und aufsehenerregenden Zeichen kein großes Gewicht, sie wollen sie nicht einmal erwähnt haben. Denn wenn wir Wunder als großartigen Beweis ansehen, so sind sie Zeugnis und Bestätigung doch nur für Augenzeugen, nicht aber für andere Menschen.

Wenn wir zum Beispiel einem Suchenden, dem Moses und Christus fremd sind, wunderbare Dinge von Diesen erzählen, wird er sie leugnen und sagen: "Auch von falschen Göttern werden durch das Zeugnis zahlreicher Menschen laufend erstaunliche Begebenheiten berichtet und in Büchern bestätigt. Die Brahmanen haben ein Buch über unerklärliche Wundertaten Brahmas¹ geschrieben." Er mag auch sagen: "Wie können wir wissen, daß die Juden und Christen die Wahrheit berichten und die Brahmanen lügen? Denn beide haben allgemein anerkannte Überlieferungen, die in Büchern gesammelt sind, und sie mögen wahr oder falsch sein." Dasselbe kann auch von anderen Religionen gesagt werden: Wenn das eine wahr ist, sind alle wahr; wenn eines anerkannt wird, müssen alle anerkannt werden. Deshalb sind Wunder kein Beweis. Wenn sie auch Beweiskraft für Augenzeugen haben, für andere Menschen genügen sie als Bestätigung nicht.

¹ Aus dem Sanskrit, bedeutet "Weltseele". Begründer der altindischen Religion. Brahmanen bilden die oberste Priesterkaste Indiens.

#106

Aber zur Zeit einer Offenbarung erkennen die Einsichtigen, daß alle Umstände, die mit dem Offenbarer zusammenhängen, Wunder sind, weil sie vor allen anderen ausgezeichnet sind, und das allein ist schon ein unbestreitbares Wunder. Denke daran, daß Christus, allein und nur auf Sich Selbst gestellt, ohne Beschützer und Helfer, ohne Truppen und Heer und unter schwerster Bedrückung das Banner Gottes vor der ganzen Welt aufrichtete und ausharrte und schließlich alle überwand, obwohl Er, äußerlich gesehen, gekreuzigt wurde. Das ist doch ein wahrhaftiges Wunder, das niemals geleugnet werden kann. Eines weiteren Beweises für die Wahrheit Christi bedarf es nicht.

Die äußeren Wunder sind für Menschen, die Sinn für die Wirklichkeit haben, ohne Gewicht. Wenn zum Beispiel ein Blinder sehend wird, so wird er schließlich doch wieder blind, das heißt, er wird sterben und alle seine Sinneskräfte verlieren. Einen Blinden sehend zu machen, ist darum weniger wichtig, weil seine körperliche Sehkraft letzten Endes doch verschwindet. Wenn ein toter Körper lebendig gemacht wird, was hat das zu bedeuten, wo er doch wieder vergehen muß? Wesentlich dagegen ist die Verleihung der inneren Sehkraft und des ewigen Lebens, das heißt des geistigen und göttlichen Lebens. Denn das körperliche Leben hat keinen Bestand und ist dem Nichtsein gleich. So kommt es, daß Christus zu einem Seiner Jünger sagte: "Laß die Toten ihre Toten begraben"; denn "was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren wird, das ist Geist."¹

¹ Matthäus 8:22 und Johannes 3:6

Beachte, daß Menschen, die nach außen hin lebten, von Christus Tote genannt wurden; denn Leben heißt ewiges Leben und Sein ist wahres Sein. Wenn daher in den heiligen Büchern die Auferweckung von Toten erwähnt wird, so bedeutet dies, daß sie ewiges Leben fanden; wenn ein Blinder sehend wurde, so ist jenes Sehen gemeint, das wirkliche, innere Einsicht bedeutet; wenn ein Tauber hörend wurde, so besagt dies, daß er geistiges und himmlisches Hören erlangte. Dies geht aus dem Text des Evangeliums hervor, wo Christus sagt: "Sie sind wie diejenigen, von denen Jesaja sagte, mit sehenden Augen sehen sie nicht, und mit hörenden Ohren hören sie nicht; und Ich heilte sie."¹

¹ Vgl, Matthäus 13:13-15 und Jesaja 6:10

#107

Damit soll nicht gesagt sein, daß die Offenbarer unfähig sind, Wunder zu vollbringen; denn sie besitzen alle Macht. Aber für sie sind inneres Sehen, geistiges Heilen und ewiges Leben die wertvollen und wichtigen Dinge. Folglich besagen jene Stellen der heiligen Bücher, die von einem Blinden berichten, der sehend wurde, daß er innerlich blind war und daß er geistige Sicht erlangte, oder daß er unwissend war und weise wurde, oder daß er gleichgültig war und wach wurde, oder daß er weltlich war und fromm wurde.

Da dieses innere Sehen, Hören, Leben und solches Heilen ewig sind, darum sind sie wesentlich. Was sind, damit verglichen, das Gewicht, die Bedeutung und der Wert dieses fleischlichen Lebens mit seinen Kräften? In wenigen Tagen wird es zu Ende sein wie fliehende Gedanken. Wenn man zum Beispiel eine erloschene Lampe anzündet, wird sie letztlich wieder erlöschen, aber das Licht der Sonne strahlt immerzu; und nur dies ist wichtig.



#108

+23. Kapitel

DIE AUFERSTEHUNG CHRISTI

Frage: Was bedeutet die Auferstehung Christi nach drei Tagen?

Antwort: Die Auferstehung der göttlichen Offenbarer ist keine körperliche. Ihre Stellung und ihre Erscheinungsweise, ihr Tun und ihre Einrichtungen, ihre Lehren und ihre Ausdrucksweise, ihre Gleichnisse und ihre Unterweisungen haben geistige und göttliche Bedeutung und sind nicht an die stoffliche Welt gebunden. Nimm zum Beispiel die Frage von Christi Kommen aus dem Himmel: An zahlreichen Stellen des Evangeliums heißt es ganz klar, daß der Sohn des Menschen vom Himmel kam, daß Er im Himmel ist und daß Er in den Himmel geht. So steht in Kapitel 6, Vers 38, des Johannesevangeliums: "Denn Ich bin vom Himmel gekommen;" und in Vers 41 lesen wir: "Sie sprachen: Ist dies nicht Jesus, Josephs Sohn, des Vater und Mutter wir kennen? Wie spricht er denn: Ich bin vom Himmel gekommen?" Und in Kapitel 3, Vers 13, heißt es: "Und niemand fährt gen Himmel, denn Der vom Himmel herniedergekommen ist, nämlich des Menschen Sohn, Der im Himmel ist."¹

¹ Die vier letzten Worte dieses Zitats sind in der vorliegenden neuesten Ausgabe (1956) des Neuen Testaments weggelassen.

Beachte, daß gesagt ist: " ... des Menschen Sohn, Der im Himmel ist", obwohl Christus zu dieser Zeit auf Erden war. Bedenke auch, daß geschrieben ist, daß Christus vom Himmel kam, obgleich Er aus Marias Schoß kam und Sein Leib von ihr geboren wurde. So ist es klar, daß es keine äußere, sondern eine innere Bedeutung hat, wenn gesagt ist, daß des Menschen Sohn vom Himmel kam; es ist eine geistige und keine körperliche Tatsache. Der Sinn ist, daß Christus, obwohl Er augenscheinlich aus Marias Schoß geboren wurde, tatsächlich vom Himmel kam, vom Mittelpunkt der Sonne der Wahrheit, von der göttlichen Welt und dem geistigen Königreich. Da nun klar erwiesen ist, daß Christus vom geistigen Himmel des göttlichen Reiches herabkam, hat auch Sein Verborgensein unter der Erde während dreier Tage eine innere Bedeutung und ist keine äußere Tatsache. Ebenso ist Seine Auferstehung aus dem Inneren der Erde symbolisch; sie ist ein geistiges und göttliches Geschehnis, kein materielles; gleicherweise ist Seine Himmelfahrt eine geistige und keine körperliche.

Von diesen Erklärungen abgesehen, hat die Wissenschaft festgestellt und bewiesen, daß der sichtbare Himmel eine unendliche Weite ist, öde und leer, wo zahllose Gestirne und Planeten ihre Bahnen ziehen.

Darum erklären Wir den Sinn der Auferstehung Christi wie folgt:

Die Jünger waren nach dem Kreuzestode Christi beunruhigt und verwirrt. Die Wirklichkeit Christi, Seine Lehren, Segensgaben, Seine Vollkommenheit und geistige Macht waren nach Seinem Kreuzestode zwei oder drei Tage lang verborgen und verschleiert, sie waren nicht sichtbar und leuchteten nicht. Im Gegenteil, man hielt sie für verloren, denn der Gläubigen waren wenige, und sie waren unruhig und aufgewühlt. Die Sache Christi war wie ein lebloser Körper; nach drei Tagen aber, als die Apostel fest und sicher wurden, Seiner Sache zu dienen begannen und sich entschlossen, die göttlichen Lehren zu verbreiten, indem sie nach Seinem Vermächtnis handelten und sich erhoben, Ihm zu dienen, leuchtete die Wirklichkeit Christi, und Seine Segensgaben wurden sichtbar; Seine Religion wurde lebendig, und Seine Lehren und Ermahnungen wurden klar und offenkundig. Mit anderen Worten: Die Sache Christi war wie ein lebloser Körper, bis das Leben und die Segensgaben des Heiligen Geistes sie erfüllten.

Das ist die Bedeutung der Auferstehung Christi, und es war eine wahre Auferstehung. Aber da die Priester weder den Sinn des Evangeliums verstanden noch seine Symbole erkannten, wurde gesagt, Religion widerspreche der Wissenschaft, und die Wissenschaft empöre sich gegen die Religion; denn gerade diese Auffassung von der leiblichen Himmelfahrt Christi in den sichtbaren Himmel steht im Widerspruch zur exakten Wissenschaft. Wenn aber die Wahrheit über diese Frage erkannt und ihr Symbolcharakter erklärt wird, widerspricht ihr die Wissenschaft in keiner Weise; im Gegenteil werden Wissenschaft und Verstand sie bestätigen.



#110

+24. Kapitel

DIE AUSGIESSUNG DES HEILIGEN GEISTES

Frage: Nach der Bibel kam der Heilige Geist auf die Jünger herab. Auf welche Weise geschah dies und was bedeutet es?

Antwort: Das Herabkommen des Heiligen Geistes ist nicht wie der Eintritt der Luft in den Körper; es ist ein bildlicher und kein wörtlich zu nehmender Ausdruck. Es gleicht vielmehr dem Eintritt des Bildes der Sonne in einen Spiegel; das heißt, ihr Glanz wird in ihm sichtbar.

Die Jünger waren nach dem Hingang Christi in Verwirrung, ihre Meinungen und Gedanken gingen auseinander und widersprachen sich; später wurden sie gefestigt und einig, und am Pfingstfest kamen sie zusammen und lösten sich von den Dingen dieser Welt. Sie dachten nicht an sich selbst, verzichteten auf Behagen und irdisches Glück, opferten Leib und Seele ihrem geliebten Herrn, verließen ihre Familien und wurden heimatlose Wanderer, wobei sie sogar ihr eigenes Dasein vergaßen. Da wurde ihnen göttliche Hilfe zuteil, und die Kraft des Heiligen Geistes wurde offenbar; die Geistigkeit Christi siegte, und die Liebe Gottes herrschte. An diesem Tage wurde ihnen Hilfe geschenkt, und sie zerstreuten sich in alle Richtungen, lehrten die Sache Gottes und machten sie klar und offenkundig.

Die Ausgießung des Heiligen Geistes auf die Jünger bedeutet also, daß sie sich dem Geiste Christi ganz ergaben, wobei sie Sicherheit und Festigkeit fanden. Durch den Geist der Liebe Gottes gewannen sie neues Leben und sahen, daß Christus lebte, half und sie beschützte. Sie waren wie Wassertropfen und wurden zum Meer, sie waren wie schwache Mücken und wurden zu königlichen Adlern, sie waren kraftlos und wurden stark. Sie waren wie Spiegel, die der Sonne zugewendet sind; wahrlich, in ihnen wurden Strahlen der Sonne offenbar.



#111

+25. Kapitel

DER HEILIGE GEIST

Frage: Was ist der Heilige Geist?

Antwort: Der Heilige Geist ist die Gnade Gottes und die leuchtenden Strahlen, die von den Offenbarern ausgehen; denn der Brennpunkt der Strahlen der Sonne der Wahrheit war Christus, und von diesem strahlenden Mittelpunkt, der Wirklichkeit Christi, strahlte die Gnade Gottes auf die anderen Spiegel, die Wirklichkeit der Apostel, zurück. Die Ausgießung des Heiligen Geistes auf die Jünger bedeutet, daß sich die herrlichen göttlichen Gnadengaben widerspiegelten und in der Wirklichkeit der Jünger offenbar wurden. Ferner sind Eintritt und Austritt, Herabkommen und Auffahrt bezeichnende körperliche und nicht geistige Merkmale. Damit soll gesagt sein, sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeiten treten ein und kommen hervor, aber intelligible Feinheiten und geistige Wirklichkeiten, wie Einsicht, Liebe, Erkenntnis, Einbildungskraft und Denkfähigkeit, treten nicht ein, noch kommen sie hervor oder herab, sondern sie sind aufeinander bezogen.

Zum Beispiel ist Wissen als Errungenschaft des Intellekts ein intelligibler Zustand. Eingehen und Herauskommen aus dem Verstand sind eingebildete Vorgänge; aber der Verstand ist mit der Erringung von Wissen so verbunden wie Bilder, die von einem Spiegel zurückgeworfen werden.

Da es also offensichtlich und klar ist, daß intelligible Wirklichkeiten nicht eintreten und herabsteigen, und es völlig unmöglich ist, daß der Heilige Geist auf- und absteigt, kommt und geht oder eindringt, so kann es nur sein, daß der Heilige Geist wie die Sonne in einem Spiegel widergestrahlt wird.

An einigen Stellen der heiligen Bücher wird vom Geist gesprochen, auch wenn ein bestimmter Mensch damit gemeint ist; man sagt ja auch häufig in Rede und Unterhaltung, daß jemand verkörperter Geist ist oder Edelmut und Großherzigkeit in Person, in solchen Fällen blicken wir auf das Licht und nicht auf die Lampe.

#112

Im Johannesevangelium, wo von dem Verheißenen, der nach Christus kommen soll, die Rede ist, heißt es in Kapitel 16, Vers 12 und 13: "Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden; sondern was er hören wird, das wird er reden."

Nun achte genau darauf, daß aus den Worten: "Denn er wird nicht aus sich selber reden, sondern was er hören wird, das wird er reden," klar hervorgeht, daß der Geist der Wahrheit in einem individuellen Menschen verkörpert ist, der Ohren hat zu hören und eine Zunge zu reden, in gleicher Weise wird der Name "Geist Gottes" mit Beziehung auf Christus angewandt; wie man von einem Licht spricht wird dabei Licht und Lampe zugleich meint.



#113

+26. Kapitel

WIEDERKUNFT CHRISTI UND JÜNGSTES GERICHT

In den heiligen Büchern heißt es, daß Christus wiederkommen werde und daß dies von der Erfüllung gewisser Zeichen abhänge: Wenn Er kommt, wird es unter diesen Zeichen sein. Zum Beispiel "werden Sonne und Mond den Schein verlieren, und die Sterne werden vom Himmel fallen ... Und alsdann wird erscheinen das Zeichen des Menschensohns am Himmel. Und alsdann werden heulen alle Geschlechter auf Erden und werden kommen sehen des Menschen Sohn in den Wolken des Himmels mit großer Kraft und Herrlichkeit."¹ Bahá'u'lláh hat diese Verse im "Buch der Gewißheit"² ausführlich erklärt. Eine Wiederholung ist nicht nötig; halte dich daran und du wirst die Bedeutung dieser Worte verstehen.

¹ Matthäus 24:29-30

² Kitáb-i-Íqán, eines der ersten Werke Bahá'u'lláhs, geschrieben in Baghdád vor der Erklärung Seiner Offenbarung.

Aber ich habe einige weitere Worte zu diesem Thema zu sagen. Auch bei Seinem ersten Erscheinen kam Christus vom Himmel, wie es ausdrücklich im Evangelium heißt. Christus Selbst sagt: "Und niemand fährt gen Himmel, denn Der vom Himmel herniedergekommen ist, nämlich des Menschen Sohn, Der im Himmel ist."¹

¹ Johannes 3:13. Die 4 letzten Worte dieses Zitats sind in der vorliegenden Ausgabe (1956) des Neuen Testaments weggelassen.

Es ist für alle klar, daß Christus vom Himmel kam, obwohl Er augenscheinlich aus Marias Schoß geboren wurde. Wie Er zum ersten Mal aus dem Himmel kam, wenn auch augenfällig aus dem Mutterleib, so wird Er auch bei Seiner Wiederkunft aus dem Himmel kommen, obwohl sichtbar aus dem Mutterschoß. Die Umstände, die im Evangelium für die Wiederkunft Christi genannt sind, sind die gleichen, die für Sein erstes Kommen aufgeführt waren, wie Wir schon früher erklärt haben.

Das Buch Jesaja verkündet, daß der Messias den Osten und Westen erobern werde, daß alle Völker der Welt sich Seinem Schutze anvertrauen werden, daß Sein Königreich errichtet werde, daß Er von einem unbekannten Ort kommen werde, daß Gericht gehalten werde über die Sünder und daß solche Gerechtigkeit herrschen werde, daß der Wolf und das Lamm, der Leopard und das Ziegenböcklein, die Schlange und der Säugling an einer Quelle, auf einer Wiese und in einem Nest beieinander sein werden. Auch für das erste Kommen galten diese Begleitumstände, obwohl sich keiner von ihnen tatsächlich ereignete. Deshalb lehnten die Juden Christus ab und nannten Ihn - möge Gott ihnen verzeihen! -,masikh'¹, sahen in Ihm den Zerstörer des Hauses Gottes, betrachteten Ihn als Brecher des Sabbats und des Gesetzes und verurteilten Ihn zum Tod. Dennoch hatte jeder einzelne der obengenannten Begleitumstände eine Bedeutung, die aber die Juden nicht verstanden. Darum waren sie davon ausgeschlossen, die Wahrheit Christi zu erkennen.

¹ "masikh" heißt "das Ungeheuer". Im Arabischen gibt es ein Wortspiel mit den Worten Masíh, der Messias, und masikh, das Ungeheuer.

#114

Auch die Wiederkunft Christi geschieht in ähnlicher Weise: Die erwähnten Zeichen und Umstände haben alle einen inneren Sinn und dürfen nicht wörtlich genommen werden. Unter anderem heißt es, daß die Sterne auf die Erde fallen werden. Es gibt unendlich viele Sterne, und heutige Gelehrte haben festgestellt und wissenschaftlich bewiesen, daß die Sonne schätzungsweise ein und eine halbe Million mal größer als unsere Erde und jeder der Fixsterne tausendmal größer als die Sonne ist. Wenn diese Sterne auf die Erde fielen, wie sollten sie auf ihr Platz finden? Es wäre so, wie wenn tausend Millionen Berge wie der Himalaja auf ein Senfkorn fallen sollten. Nach den Maßstäben der Vernunft und der Wissenschaft ist das ganz unmöglich. Noch merkwürdiger ist, daß Christus sagte: "Vielleicht werde ich kommen, wenn ihr noch schlaft. Denn das Kommen des Menschensohnes gleicht dem Kommen des Diebes." Vielleicht ist der Dieb im Hause und der Hausherr weiß nichts davon.¹

¹ Vgl. Matthäus 24:43 , Lukas 12:40 , 1.Thessalonicher 5:2 , Offenbarung 3:3 , Markus 13:36

Es ist klar und eindeutig, daß diese Hinweise symbolische und nicht wörtliche Bedeutung haben. Sie sind im "Buch der Gewißheit" ausführlich erklärt. Halte dich daran!



#115

+27. Kapitel

DIE DREIEINIGKEIT

Frage: Was bedeutet die Dreieinigkeit, die drei Personen in der einen?

Antwort: Die göttliche Wirklichkeit ist über das Verstehen der Geschöpfe erhaben und geheiligt, und die weisesten und klügsten Köpfe können sich kein Bild von ihr machen; denn sie ist frei von jeder Vorstellung. Jene Wirklichkeit des Herrn läßt keine Teilung zu; denn Teilung und Vermehrung sind den Geschöpfen eigen, die abhängig in ihrem Sein sind, und sind keine Ereignisse, von denen der Selbstbestehende mitbetroffen ist.

Die göttliche Wirklichkeit ist über die Vereinzelung geheiligt, wieviel mehr noch über die Vielheit. Das Herabsteigen jener Wirklichkeit Gottes zu Bedingungen und Stufen wäre mit Unvollkommenheit gleichbedeutend und das Gegenteil von Vollkommenheit; deshalb ist es völlig ausgeschlossen. Die Wirklichkeit des Herrn war immer und bleibt in der Erhabenheit der Heiligung und Heiligkeit. Alles, was von den Offenbarungen und Erscheinungsorten Gottes gesagt ist, bezeichnet die göttliche Widerspiegelung und nicht ein Herabsteigen zu den Bedingungen des Daseins.¹

¹ Siehe Kapitel 82 "Pantheismus".

Gott ist reine Vollkommenheit, Geschöpfe sind bloß unvollkommen. Das Herabsteigen Gottes zu den Bedingungen des Daseins wäre die größte Unvollkommenheit; nein, Seine Offenbarung, Sein Erscheinen, Sein Aufgang gleichen dem Sichtbarwerden der Sonne in einem reinen, makellosen und feingeschliffenen Spiegel. Alle Geschöpfe sind offenkundige Zeichen Gottes, wie die anderen irdischen Organismen, auf die alle die Strahlen der Sonne fallen. Aber auf Ebenen, Berge, Bäume und Früchte fällt nur soviel Licht, daß sie sichtbar werden, sich entfalten und zum Ziel ihres Daseins gelangen, während der vollkommene Mensch¹ im Rang des klaren Spiegels ist, in dem die Sonne der Wahrheit mit allen ihren Eigenschaften und Vollkommenheiten sichtbar und deutlich wird. So war die Wirklichkeit Christi ein klarer, feingeschliffener Spiegel von größter Schönheit und Reinheit. Die Sonne der Wahrheit, das Wesen Gottes, offenbarte sich in diesem Spiegel, und durch ihn wurden ihr Licht und ihre Wärme wahrnehmbar; aber von der Höhe ihrer Heiligkeit und dem Himmel ihrer Reinheit ist die Sonne nicht selbst herabgestiegen, um im Spiegel zu wohnen und zu verweilen. Nein, sie verharrt ewig in ihrer Erhabenheit und Höhe, während sie im Spiegel nur sichtbar wird und sich in Schönheit und Vollendung offenbart.

¹ Der göttliche Offenbarer

#116

Wenn wir nun sagen, daß wir die Sonne in zwei Spiegeln - einer Christus und einer der Heilige Geist - gesehen haben, so daß wir also drei Sonnen, eine am Himmel und zwei andere auf Erden, wahrgenommen haben, haben wir recht. Und wenn wir sagen, daß es nur EINE unteilbare Sonne gibt, die einzig und ohnegleichen ist, sprechen wir wiederum die Wahrheit.

Zusammengefaßt: Die Wirklichkeit Christi war ein reiner Spiegel, und die Sonne der Wahrheit, die wesenhafte Einzigkeit, mit ihren unendlichen Vollkommenheiten und Wesensmerkmalen, wurde im Spiegel sichtbar. Es ist nicht so, daß die Sonne, die das Wesen Gottes ist, geteilt und vervielfacht worden wäre, sondern die Sonne ist eine, aber sie erschien im Spiegel. Darum sagte Christus: "Der Vater ist im Sohn" und meinte, daß jene Sonne in diesem Spiegel ersichtlich und offenbar ist.¹

¹ Vgl. Johannes 10:38 und 14:10

Der Heilige Geist ist die Gnade Gottes, die in der Wirklichkeit Christi sichtbar und offenkundig wurde. Die Stufe der Sohnschaft ist das Herz Christi, und der Heilige Geist ist die Stufe des Geistes Christi. Folglich ist es erwiesen und eindeutig geworden, daß das Wesen Gottes absolut einzigartig ist und daß es nichts Gleiches, nichts Ähnliches, nichts Vergleichbares gibt.

Dies ist die Bedeutung der drei Personen der Dreieinigkeit. Wäre es anders, so beruhten die Grundlagen der Religion Gottes auf einer unlogischen Annahme, die der Verstand niemals begreifen könnte; und wie könnte das Bewußtsein gezwungen werden, etwas zu glauben, was es nicht einsehen kann? Vom Verstand kann nur etwas angenommen werden, wenn es in eine verständliche Form gefaßt ist; sonst ist es nichts als eine Bemühung der Einbildung.

Durch diese Erklärung dürfte deutlich geworden sein, was der Sinn der drei Personen der Dreieinigkeit ist. Auch die Einheit Gottes ist bewiesen.

#117



#118

+28. Kapitel

CHRISTI VERKLÄRUNG

"Und nun verherrliche mich Du, Vater, bei Dir Selbst mit der Klarheit, die ich bei Dir hatte, ehe die Welt war."¹

¹ Johannes 17:5 (früher: Und nun verkläre mich Du, Vater ...)

Es gibt zwei Arten von Präexistenz: Die eine ist wesentlich, keine Ursache geht ihr voraus, sondern ihr Dasein ist unabhängig. Zum Beispiel hat die Sonne ihr Licht in sich, denn ihr Scheinen hängt nicht vom Licht anderer Gestirne ab. Dies nennt man Licht aus dem Wesen. Das Licht des Mondes aber kommt von der Sonne, denn der Mond ist mit seinem Scheinen von der Sonne abhängig. Folglich ist die Sonne in Bezug auf das Licht die Ursache und der Mond die Wirkung. Die Sonne ist das Frühere, Vorhergehende, Ursprüngliche, während der Mond das Spätere, Nachkommende ist.

Die zweite Art von Präexistenz ist zeitlich, bei ihr gibt es keinen Anfang. Das Wort Gottes¹ ist geheiligt über die Zeit. In Beziehung auf Gott sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleich. Ein Gestern, Heute und Morgen gibt es nicht für die Sonne.

¹ Die Wirklichkeit Christi.

Ebenso gibt es eine Präexistenz der Herrlichkeit, das heißt, das Herrlichste geht dem Herrlichen voraus. Darum ist die Wirklichkeit Christi, Der das Wort Gottes ist, in Bezug auf Wesen, Eigenschaften und Herrlichkeit sicherlich den Geschöpfen vorangegangen. Vor Seiner Offenbarung in menschlicher Gestalt war das Wort Gottes in höchster Heiligkeit und Herrlichkeit, wesenhaft in vollendeter Schönheit und hellstem Glanz, auf der Höhe Seiner Pracht. Als es nach dem Ratschluß des allmächtigen Gottes von den Höhen der Herrlichkeit in die körperliche Welt leuchtete, wurde das Wort Gottes infolge der Körperlichkeit unterdrückt, so daß es in die Hände der Juden fiel; es wurde das Opfer der Herrschsüchtigen und Unwissenden und wurde schließlich gekreuzigt. Darum sprach Christus zu Gott: "Löse mich aus den Fesseln der körperlichen Welt, mache mich frei aus diesem Käfig, auf daß ich zur höchsten Höhe der Erhabenheit und Herrlichkeit aufsteige und daß ich jene Größe und Heiligung, die vor der irdischen Welt bestand, wiederfinde, daß ich mich der ewigen Welt erfreue und mich zur ursprünglichen Heimat, zur Welt ohne Raum, zum verborgenen Königreich erhebe."

#119

So kommt es, daß man sogar im Reich dieser Welt, das heißt im Gebiet des Geistes und der Materie, sieht, wie die Größe und Herrlichkeit Christi auf dieser Erde nach Seiner Himmelfahrt offenbar wurden. Während Seines Daseins in der körperlichen Welt war Er der Verachtung und dem Spott des schwächsten Volkes der Welt, der Juden, preisgegeben, die es für passend hielten, eine Dornenkrone auf Sein gesegnetes Haupt zu setzen. Aber nach Seiner Himmelfahrt wurden die juwelenbesetzten Kronen aller Könige gedemütigt und beugten sich vor der Dornenkrone.

Erkenne daraus die Herrlichkeit, die das Wort Gottes sogar in dieser Welt erlangte.



#120

+29. Kapitel

STERBEN IN ADAM UND LEBEN IN CHRISTUS

Frage: Im 1. Korintherbrief, Kapitel 15, Vers 12, heißt es: "Denn gleichwie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden." Was besagen diese Worte?

Antwort: Wisse, daß es im Menschen zwei Naturen gibt, die körperliche und die geistige. Die körperliche Natur ist das Erbe von Adam und die geistige das Erbe aus der Wirklichkeit des Wortes Gottes, das die Geistigkeit Christi ist. Die körperliche Natur wurde von Adam geboren, aber die geistige aus der Gnade des Heiligen Geistes; die körperliche Natur ist die Quelle aller Unvollkommenheit, die geistige die Quelle aller Vollkommenheit.

Christus opferte Sich Selbst, damit die Menschen von der Unvollkommenheit der körperlichen Natur befreit und mit den Gaben der geistigen Natur ausgezeichnet werden. Diese geistige Natur, die durch die Gnade der göttlichen Wirklichkeit in Erscheinung trat, ist die Vereinigung aller Vollkommenheiten und wird durch den Odem des Heiligen Geistes offenbar. Sie ist göttliche Vollkommenheit, Licht, Geistigkeit, rechte Führung, Erhabenheit, edles Streben, Gerechtigkeit, Liebe, Großmut, Güte zu allen, Menschenliebe, der innerste Kern des Lebens. Sie ist die Widerspiegelung des Glanzes der Sonne der Wahrheit.

Christus ist der Mittelpunkt des Heiligen Geistes: Aus dem Heiligen Geist wurde Er geboren, durch den Heiligen Geist wurde Er berufen und vom Heiligen Geist stammt Er ab. Das heißt, daß die Wirklichkeit Christi nicht von Adam abstammt, sondern vom Heiligen Geist geboren ist. Darum bedeutet der Vers: "Denn gleichwie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden", entsprechend dieser Ausdrucksweise, daß Adam¹ der Stammvater der Menschheit ist, daß er nämlich ihr körperliches Leben begründet hat; sein ist die körperliche Vaterschaft. Er ist eine lebende Seele, aber nicht der Spender des geistigen Lebens. Dagegen ist Christus die Ursache des geistigen Lebens der Menschheit, und mit Bezug auf den Geist ist Sein die geistige Vaterschaft. Adam ist eine lebendige Seele, Christus der lebenspendende Geist.

¹ Abúl-bashar, der Vater des Menschen, ist einer der Namen, den die Muhammadaner Adam gegeben haben.

#121

Diese physische, menschliche Welt ist der Macht der Triebe unterworfen, und Sünde ist die Folge dieser Macht der sinnlichen Begierden, die ja den Gesetzen der Gerechtigkeit und Heiligkeit nicht unterstellt sind. Der Körper des Menschen ist ein Sklave der Natur; was immer sie befiehlt, wird er tun. Es steht also fest, daß Sünden, wie Zorn, Eifersucht, Streit, Habsucht, Geiz, Torheit, Vorurteil, Haß, Stolz und Herrschsucht, in der körperlichen Welt vorhanden sind. Alle diese niedrigen Eigenschaften finden sich in der Natur des Menschen. Ein Mensch ohne geistige Erziehung ist wie ein Tier. Wie die Wilden Afrikas, deren Handlungen, Gewohnheiten und Sitten allein von den Sinnen bestimmt werden, benehmen sie sich entsprechend den Ansprüchen der Natur in einem solchen Maß, daß sie einander zerreißen und fressen. So ist es klar, daß die stoffliche Welt des Menschen eine Welt der Sünde ist. In dieser physischen Welt steht der Mensch nicht höher als das Tier.

Jede Sünde entspringt den Forderungen der Natur, und diese Ansprüche, die der physischen Erde entstammen, sind beim Tier keine Sünde, während sie für den Menschen Sünde sind. Das Tier ist die Quelle von Unvollkommenheiten, wie Zorn, Gier, Neid, Habsucht, Grausamkeit und Selbstsucht; alle diese Mängel werden in Tieren gefunden, stellen aber keine Sünden dar. Beim Menschen dagegen sind sie Sünde.

Adam begründete das körperliche Leben der Menschen, aber die Wirklichkeit Christi, das heißt das Wort Gottes, ist die Ursache des geistigen Lebens. Es ist der belebende Geist. Das bedeutet, daß alle Unvollkommenheiten, die von den Ansprüchen des physischen, menschlichen Lebens herrühren, durch die Lehren und Unterweisungen jenes Geistes in menschliche Vollkommenheit umgewandelt werden. Deshalb war Christus der belebende Geist und die Ursache des Lebens in der ganzen Menschheit.

Adam war die Ursache des physischen Lebens, und weil die stoffliche Welt des Menschen die Welt der Unvollkommenheit und Unvollkommenheit gleichbedeutend mit Tod ist, verglich Paulus die stoffliche Unvollkommenheit mit dem Tod.

#122

Aber die meisten Christen glauben, daß Adam durch das Essen vom verbotenen Baum sündigte, weil er ungehorsam war, und daß die verheerende Folge dieses Ungehorsams als Erbe übertragen wurde und seinen Nachkommen geblieben ist. So sei Adam zur Ursache des menschlichen Todes geworden. Diese Erklärung widerspricht der Vernunft und ist offensichtlich falsch; denn sie besagt, daß alle Menschen, sogar die Propheten und Boten Gottes, ohne Vergehen und Sünde, nur weil sie aus der Nachkommenschaft Adams stammen, schuldlos schuldig und sündig geworden seien und bis zum Tage des Opfers Christi zu qualvoller Strafe in der Hölle gefangen gehalten wurden. Dies ist weit von der Gerechtigkeit Gottes entfernt. Wenn Adam ein Sünder war, was war die Sünde Abrahams? Was haben sich Isaak und Joseph zuschulden kommen lassen? Was hat Moses Übles getan?

Christus, Der das Wort Gottes ist, hat Sich Selbst geopfert. Dieses Opfer hat zwei Bedeutungen, eine offensichtliche und eine verborgene. Die äußere Bedeutung ist folgende: Christi Absicht war, eine Sache zu vertreten und zu fördern, die das Menschengeschlecht erziehen, die Kinder Adams neu beleben und die ganze Menschheit erleuchten sollte. Weil aber die Offenbarung einer solch großen Sache - einer Sache, die im Widerspruch zu allen Menschen, Völkern und Obrigkeiten stand - es in sich schloß, daß Er getötet und gekreuzigt würde, hat Christus damit, daß Er Seine Sendung verkündete, Sein Leben hingegeben. Für Ihn war das Kreuz wie ein Thron, die Wunden wie Balsam, das Gift wie Honig und Zucker. Er erhob Sich, die Menschen zu lehren und zu erziehen, und so opferte Er Sich Selbst, um den Geist des Lebens zu spenden. Sein Leib ging zugrunde, damit Sein Geist die Menschen neu beseele.

Die andere Bedeutung des Opfers ist die: Christus war wie ein Samenkorn, und dieses Samenkorn opferte seine eigene Gestalt, damit der Baum wachsen und sich entfalten möge. Wenn auch das Äußere des Samenkorns zugrunde ging, so offenbarte sich seine Wirklichkeit in vollendeter, majestätischer Pracht und Schönheit in der Gestalt eines Baumes.

#123

Die Stufe Christi war reine Vollkommenheit; Er brachte zustande, daß Seine göttlichen Vollkommenheiten wie Strahlen der Sonne auf alle gläubigen Seelen fielen, und die Gaben des Lichts schienen und leuchteten in der Wirklichkeit der Menschen. Daher sagt Er: "Ich bin das lebendige Brot, vom Himmel gekommen. Wer von diesem Brot essen wird, der wird leben in Ewigkeit."¹ Das heißt, daß jeder, der an diesem himmlischen Mahl teilnimmt, ewiges Leben findet; jeder, der an dieser Gnade teilhat und diese Vollkommenheiten annimmt, wird ewiges Leben gewinnen, wird immerwährende Gnaden empfangen, wird von der Finsternis des Irrtums befreit und vom Licht Seiner Führung erleuchtet.

Die Gestalt des Samenkorns wurde dem Baum geopfert, aber seine Vollkommenheiten wurden infolge dieses Opfers sichtbar und offenkundig; denn der Baum mit seinen Zweigen, Blättern und Blüten war im Samenkorn verborgen, indem das Äußere des Samenkorns geopfert wurde, zeigten sich seine Vollkommenheiten in der vollendeten Gestalt der Blätter, Blüten und Früchte.

¹ Johannes 6:51



#124

+30. Kapitel

ADAM UND EVA

Frage: Was ist die Wahrheit über Adam, der vom Baum der Erkenntnis gegessen hat?

Antwort: Im Alten Testament heißt es, daß Gott Adam in den Garten Eden setzte, damit er ihn pflege und behüte, und daß Er sprach:"Iß von jedem Baum im Garten, mit Ausnahme des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse, denn wenn du von diesem ißt, wirst du sterben." Dann wird gesagt, daß Gott Adam in Schlaf versenkte, eine seiner Rippen nahm und die Frau erschuf, damit sie seine Gefährtin sei. Weiter heißt es, daß die Schlange die Frau verleitet habe, vom Baum zu essen, indem sie sprach: "Gott hat euch verboten vom Baum zu essen, damit eure Augen nicht aufgetan werden und damit ihr nicht Gut von Böse unterscheiden könnt." Darauf aß Eva vom Baum und gab Adam, der ebenfalls aß; ihre Augen wurden aufgetan, sie wurden gewahr, daß sie nackt waren und bedeckten sich mit Blättern. Als Folge dieser Tat wurden sie von Gott getadelt. Er sagte zu Adam: "Hast du vom verbotenen Baum gegessen?" Adam antwortete: "Eva hat mich verleitet, und ich aß." Gott tadelte dann Eva, und sie sprach: "Die Schlange hat mich verleitet, und ich aß." Dafür wurde die Schlange verflucht und zwischen ihr und Eva und zwischen ihren Nachkommen Feindschaft gesetzt. Und Gott sprach: "Der Mensch ist Uns ähnlich geworden und weiß, was gut und böse ist, und vielleicht wird er auch vom Baum des Lebens essen und ewig leben." Daher behütete Gott den Baum des Lebens.¹

¹ Vgl. 1. Mose 2:16-18 und 3:1-19

Wenn wir diese Geschichte nach der äußeren Bedeutung ihrer Worte nehmen, wie es allgemein üblich ist, klingt sie höchst seltsam. Der Verstand kann sie nicht annehmen, bestätigen oder sich vorstellen; denn solche Geschehnisse, Einzelheiten, Gespräche und Vorwürfe stehen vernünftigen Menschen fern, um wieviel mehr Gott, Der dieses unendliche Weltall in der vollkommensten Gestalt und seine unzähligen Bewohner mit unübertrefflicher Ordnung, Kraft und Vollendung eingerichtet hat.

#125

Wir müssen überlegen: Wenn die wörtliche Bedeutung dieser Geschichte einem klugen Menschen zugeschrieben würde, würden zweifellos alle folgerichtig urteilen, daß diese Anordnung, diese Erdichtung nicht von einem intelligenten Wesen herrühren könne. Diese Geschichte von Adam und Eva, die vom Baum der Erkenntnis aßen, und von ihrer Vertreibung aus dem Paradies muß deshalb einfach als Gleichnis verstanden werden. Sie enthält göttliche Geheimnisse und umfassende Bedeutungen und steht wunderbaren Erklärungen offen. Nur die in das Geheime eingeführt sind und die dem Hof des Allmächtigen nahe sind, können diese Geheimnisse begreifen. Diese Verse des Alten Testaments enthalten also zahlreiche Bedeutungen.

Eine dieser Bedeutungen wollen Wir jetzt erklären: Mit Adam ist sein Geist und mit Eva seine Seele gemeint. Denn an einigen Stellen der heiligen Bücher, in denen Frauen erwähnt werden, ist die menschliche Seele damit gemeint. Der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse bezeichnet die menschliche Welt; denn die geistige und göttliche Welt ist vollkommen gut und reines Licht, aber in der irdischen Welt bestehen Licht und Finsternis, Gut und Böse als gegensätzliche Seinsweisen.

Die Bedeutung der Schlange ist Bindung an die Menschenwelt. Dieses Verhaftetsein des Geistes mit der irdischen Welt lenkte Adams Seele und Geist von der Welt der Freiheit zur Welt des Zwangs und verleitete ihn, sich vom Reich der Einheit zur Menschenwelt zu wenden. Als Adams Seele und Geist die menschliche Welt betraten, verließ er das Paradies der Freiheit und verfiel der Welt der Bindung. Von der Höhe der Reinheit und des absolut Guten kam er in die Welt des Guten und Bösen.

Der Baum des Lebens verkörpert die höchste Stufe in der bestehenden Welt: Die Stufe des Wortes Gottes und der allumfassenden Offenbarung. Darum blieb jene Stufe verwahrt, bis sie im Erscheinen der größten Universalen Offenbarung sichtbar und offenkundig wurde. Denn die Stellung Adams war in bezug auf das Erscheinen und die Offenbarung der göttlichen Vollkommenheiten in keimhaftem Zustand; der Rang Christi entspricht der Zeit des Heranreifens und Vernünftigwerdens; der Aufgang des Größten Gestirns¹ war die Stufe der Vollkommenheit des Geistes und der menschlichen Tugenden. Deshalb ist im höchsten Paradies der Baum des Lebens der Ausdruck für den Mittelpunkt vollkommen reiner Heiligkeit, nämlich der göttlichen allumfassenden Offenbarung. Vom Zeitalter Adams bis zur Zeit Christi sprach man wenig vom ewigen Leben und den allumfassenden himmlischen Vollkommenheiten. Dieser Baum des Lebens war die Stufe der Wirklichkeit Christi; durch Seine Offenbarung wurde er gepflanzt und mit ewigen Früchten geschmückt.

¹ Der Offenbarung Bahá'u'lláhs.

Beachte nun, wie diese Auslegung der Wirklichkeit entspricht. Denn als sich Geist und Seele Adams mit der irdischen Welt verbanden, gerieten sie von der Welt der Freiheit in die Welt des Zwangs, und seine Nachkommen blieben in Knechtschaft. Diese Bindung von Seele und Geist an die menschliche Welt ist Sünde und wurde von Adam auf seine Nachkommen vererbt. Sie ist die Schlange, die immer im Geiste seiner Nachkommen lebt und mit ihnen im Kampf steht. Diese Feindschaft währt immerfort. Denn die Bindung an die Welt wurde zur Ursache der Unfreiheit des Geistes, und sie ist das gleiche wie die Sünde, die von Adam auf seine Nachkommenschaft übertragen wurde. Durch diese Bindung werden die Menschen von wesentlicher Geistigkeit und erhabener Stufe ausgeschlossen.

Als der heilige Odem Christi und die geheiligten Strahlen des Größten Gestirns sich verbreiteten, wurden die menschlichen Wirklichkeiten, nämlich diejenigen Menschen, die sich dem Wort Gottes zuwandten und den Reichtum Seiner Gnadengaben empfingen, frei von dieser Bindung und Sünde, gewannen ewiges Leben, wurden aus den Fesseln des Zwangs gelöst und gelangten zur Welt der Freiheit. Sie wurden von den Schwächen der menschlichen Welt gelöst und mit den Tugenden des Königreiches gesegnet. Das ist die Bedeutung der Worte Christi: "Ich gab Mein Blut für das Leben der Welt."¹ Das heißt: Alle Heimsuchungen, Prüfungen und Trübsale, selbst das größte Martyrium habe ich auf Mich genommen, um dieses Ziel, die Überwindung der Sünde, zu erreichen. Damit ist die Loslösung des Geistes von der menschlichen Welt und sein Hingezogenwerden zum göttlichen Reich gemeint, damit sich Seelen erheben, die zum innersten Wesen der Führung der Menschheit werden und zu Offenbarungen der Vollkommenheiten des höchsten Königreichs.

¹ vgl. Johannes 6:51.

#127

Bedenke, wenn der Sündenfall in seinem buchstäblichen Sinn gedeutet würde, entsprechend den Annahmen der Anhänger des Buches¹, so wäre dies reine Ungerechtigkeit und völlige Vorherbestimmung. Wenn Adam sündigte, indem er vom verbotenen Baume aß, was war die Sünde Abrahams, des Ruhmvollen, und was war der Fehler Mose, des Sprechers mit Gott? Was war das Vergehen des Propheten Noah? Was die Übertretung Josephs, des Aufrechten? Und was war die Schuld der Propheten Gottes, oder die Missetat Johannes des Täufers? Könnte es die Gerechtigkeit Gottes zugeben, daß diese erleuchteten Offenbarer der Sünde Adams wegen qualvolle Höllenpein ertragen müßten, bis Christus kam und Sie durch Sein eigenes Opfer von den schmerzhaften Martern befreite? Eine solche Vorstellung steht außerhalb jedes Gesetzes und jeder Regel, und kein vernünftiger Mensch kann sie annehmen.

¹ Juden und Christen.

Nein, der Sinn ist, wie schon erwähnt: Adam ist der Geist des Menschen und Eva seine Seele; der Baum ist die menschliche Welt, und die Schlange ist jene Bindung an diese Welt, welche die Sünde ausmacht und die Nachkommen Adams befallen hat. Christus bewahrte durch Seinen heiligen Odem die Menschen vor dieser Bindung und befreite sie von dieser Sünde. Die Sünde Adams steht im Verhältnis zu seiner Stufe. Obgleich die Bindung an die irdische Welt auch gute Ergebnisse zeitigen mag, so ist sie doch im Vergleich zur Verbundenheit mit der geistigen Welt wie Sünde. Was für die Gläubigen noch eine gute Tat ist, kann für die Gott Nahestehenden schon Sünde sein. Dies ist außer Frage gestellt. So ist körperliche Kraft in Beziehung zu geistiger nicht nur mangelhaft, sondern sogar Schwäche. Ebenso erscheint das körperliche Leben im Vergleich mit dem ewigen Leben im Königreich als Tod. Darum nannte Christus das körperliche Leben Tod, als Er sprach: "Laß die Toten ihre Toten begraben."¹ Obwohl jene Seelen körperliches Leben hatten, war dieses Leben in Seinen Augen Tod.

Dies ist eine der Bedeutungen der biblischen Geschichte von Adam. Denke nach, bis du die anderen findest.

¹ Matthäus 8:22



#128

+31. Kapitel

LÄSTERUNG WIDER DEN HEILIGEN GEIST

Frage: - "Darum sage ich euch: Alle Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben; aber die Lästerung wider den Geist wird den Menschen nicht vergeben. Und wer etwas redet wider des Menschen Sohn, dem wird es vergeben; aber wer etwas redet wider den Heiligen Geist, dem wird's nicht vergeben, weder in dieser noch in jener Welt."¹

¹ Matthäus 12:31-32 s.a. Markus 3:28-29 , Lukas 12:10

Antwort: Die heiligen Wirklichkeiten der Offenbarer Gottes haben zwei geistige Stellungen. Die eine ist, Träger der Offenbarung zu sein, was mit der Stellung des Sonnenballs verglichen werden kann, und die andere ist der blendende Glanz der Offenbarung, dem Licht und den Strahlen der Sonne vergleichbar; und das sind die göttlichen Vollkommenheiten, mit anderen Worten, der Heilige Geist. Denn der Heilige Geist bedeutet die göttlichen Gnadengaben und die Vollkommenheiten des Herrn; und diese himmlischen Vollkommenheiten sind wie die Strahlen und die Wärme der Sonne. Die leuchtenden Strahlen machen das Wesen der Sonne aus, und ohne sie wäre es nicht die Sonne. Wären die Offenbarung und die Widerspiegelung der göttlichen Vollkommenheiten nicht in Christus, so wäre Jesus nicht der Messias. Er ist ein Offenbarer, weil Er in Sich die göttliche Vollendung zurückstrahlt. Die Propheten Gottes sind Offenbarungen der Vollkommenheiten des Herrn; das heißt, der Heilige Geist erscheint in ihnen.

Wenn eine Seele dem Offenbarer fernbleibt, so mag sie dennoch erweckt werden; denn dieser Mensch erkannte den Träger der Offenbarung der göttlichen Vollkommenheit nicht. Wenn er aber die göttlichen Vollkommenheiten selbst, in anderen Worten den Heiligen Geist, verabscheut, ist es klar, daß er wie eine Fledermaus ist, die das Licht haßt.

#129

Gegen diese Ablehnung des Lichtes gibt es kein Mittel, und sie kann nicht verziehen werden; für diesen Menschen ist es also unmöglich, Gott nahezukommen. Diese Lampe hier ist eine Lampe infolge ihres Lichtes; ohne Licht wäre sie keine Lampe. Wenn nun eine Seele eine Abneigung gegen das Licht der Lampe hat, ist sie wie blind und hat kein Verständnis für das Licht; und Blindheit ist die Ursache ewiger Verbannung von Gott.

Es ist klar, daß die Menschen von der Freigebigkeit des Heiligen Geistes, der in den göttlichen Offenbarern erscheint, Gnade empfangen, und nicht von der Persönlichkeit des Offenbarers. Wenn daher eine Seele von den Gnadengaben des Heiligen Geistes nichts annimmt, bleibt sie der göttlichen Gabe beraubt, und die Verbannung selbst stellt diesen Menschen außerhalb der Reichweite der Verzeihung.

So gab es viele Menschen, die Gegner des Offenbarers waren und Ihn nicht erkannten; wenn sie Ihn aber einmal erkannten, wurden sie zu Freunden. So wurde Feindschaft gegen den Offenbarer nicht zur Ursache ewigen Ausgeschlossenseins; denn diese Menschen waren Feinde der Lampe, ohne zu wissen, daß sie das strahlende Licht Gottes war. Sie waren keine Feinde des Lichts, und wenn sie einmal verstanden hatten, daß der Träger des Lichtes der Offenbarer des wahren Lichtes war, wurden sie zu aufrichtigen Freunden.

Zusammengefaßt: Das Fernbleiben vom Träger des Lichtes muß nicht zu ewiger Verbannung führen, denn man kann wachsam und erweckt werden; aber Feindschaft gegen das Licht ist die Ursache ewigen Ausgeschlossenseins, und dagegen gibt es kein Mittel.



#130

+32. Kapitel

VIELE SIND BERUFEN, ABER WENIGE SIND AUSERWÄHLT

Frage: Im Evangelium sagte Christus: "Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt"¹, und im Qur'án heißt es: "Er schenkt Seine Gnade, wem Er will." Welche Weisheit liegt in diesen Worten?

¹ Matthäus 20:16 und 22:14.

Antwort: Wisse, daß das Gefüge und die Vollkommenheit des ganzen Weltalls es erfordern, daß Dasein in zahllosen Formen erscheine. Denn das Erschaffene könnte nicht in nur einer Klasse, einer Stufe, einem Geschlecht, einer Gattung oder in nur einer Art verkörpert werden; der Unterschied der Stufen, die Ungleichheit der Gestalt und die Verschiedenheit von Geschlecht und Gattung sind zweifellos notwendig. Das heißt, die Stufen mineralischer, pflanzlicher und tierischer Wesenheiten und die des Menschen sind unvermeidlich; denn die Welt fände mit dem Menschen allein nicht ihre Ordnung und Gesetzmäßigkeit, ihre Ausschmückung und Vollendung. Ebenso könnte die Welt, bestünde sie allein aus Tieren oder Pflanzen oder nur aus Mineralien, nicht ihr wunderbares Aussehen, ihre festgefügte Ordnung und ihren lieblichen Schmuck zeigen. Daß Dasein in höchster Vollendung erstrahlt, ist zweifellos die Folge der Verschiedenheiten von Graden, Stufen, Gattungen und Arten.

Wenn zum Beispiel dieser Baum nur aus Früchten bestände, könnte die Vollkommenheit der pflanzlichen Stufe nicht erreicht werden; denn Blätter, Blüten und Früchte sind zusammen nötig, damit der Baum mit größter Schönheit und Vollendung geschmückt werde.

Betrachte in gleicher Weise den menschlichen Körper: Er muß aus verschiedenen Organen, Teilen und Gliedern zusammengesetzt sein. Menschliche Schönheit und Vollkommenheit erfordern das Vorhandensein von Ohren, Augen, Gehirn, ja sogar von Nägeln und Haaren; bestände der Mensch nur aus Gehirn, Augen oder Ohren, so wäre dies reine Unvollkommenheit. Auch das Fehlen von Haaren, Wimpern, Nägeln oder Zähnen wäre ein einwandfreier Mangel, obwohl sie im Vergleich mit dem Auge ohne Gefühl sind und darin dem Mineral und der Pflanze ähneln; aber ihr Fehlen im menschlichen Körper ist äußerst fehlerhaft und unangenehm.

#131

Da es verschiedenartige und voneinander abweichende Stufen des Daseins gibt, stehen immer einige Arten über den anderen. Es geschieht daher nach dem Willen und Wunsch Gottes, daß manche Geschöpfe, wie die Menschen, für die höchste Stufe auserwählt sind, andere, wie zum Beispiel die Pflanzen, der mittleren Stufe zugeteilt sind und einige, wie die Mineralien, auf der untersten Stufe belassen werden.

Es kommt aus der Gnade Gottes, daß der Mensch für den höchsten Rang auserwählt ist; auch die Unterschiede, die mit Beziehung auf geistigen Fortschritt und himmlische Vollkommenheiten zwischen den Menschen bestehen, beruhen auf der Auswahl durch den Allbarmherzigen. Denn der Glaube, der ewiges Leben bedeutet, ist das Zeichen der Gnade und nicht die Folge der Gerechtigkeit. Die Flamme des Feuers der Liebe in dieser Welt von Erde und Wasser brennt durch die Kraft der Anziehung und nicht durch Bemühung und Anstrengung. Wissen, Wissenschaft und andere Vollkommenheiten können dagegen durch Bemühen und Ausdauer erworben werden; aber nur das Licht der göttlichen Schönheit kann durch die Macht der Anziehung die seelisch-geistige Kraft in Bewegung setzen und hinreißen. Darum wurde gesagt: "Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt."

Das materielle Dasein aber kann nicht wegen seiner eigenen Stufe oder Stellung mißachtet, verurteilt und für sie verantwortlich gemacht werden. Beispielsweise sind Mineral, Pflanze und Tier auf der ihnen jeweils zustehenden Stufe annehmbar; wenn sie aber innerhalb ihrer eigenen Stufe unfertig bleiben, sind sie minderwertig, während die Stufe an sich vollendet ist.

Die Verschiedenheit unter den Menschen ist von zweierlei Art: Die eine ist der Unterschied der Stufe, und dieser Unterschied ist unverschuldet. Die andere ist ein Unterschied des Glaubens und der Gewißheit, deren Verlust verschuldet ist; denn dann wird der Mensch von Wünschen und Leidenschaften beherrscht, die ihn jener hohen Gaben berauben und ihn daran hindern, die Macht der Anziehung der Liebe Gottes zu fühlen, obwohl dieser Mensch auf der ihm zugeteilten Stufe annehmbar und gut sein mag, wird er, da er der Vollkommenheiten jenes Grades beraubt ist, zur Quelle von Unvollkommenheiten, wofür er zur Verantwortung gezogen wird.¹

¹ Siehe Kapitel 57 "Die Gründe für die Charakterverschiedenheiten der Menschen".

#132



#133

+33. Kapitel

WIEDERKUNFT DER GOTTESGESANDTEN

Frage: Wie ist die Wiederkunft zu erklären?

Antwort: Bahá'u'lláh hat diese Frage im "Buch der Gewißheit"¹ ausführlich und eingehend erklärt. Lies es, und die Wahrheit über dieses Problem wird offenkundig werden. Da du aber gefragt hast, will Ich es kurz erklären. Wir beginnen, es anhand des Evangeliums zu erläutern, denn da ist klar gesagt, daß Johannes, Zacharias' Sohn, als er auftrat und den Menschen die frohen Botschaften vom Gottesreich brachte, gefragt wurde: "Wer bist du? Bist du der verheißene Messias?" Er antwortete: "Ich bin nicht der Messias." Darauf fragten sie ihn: "Bist du Elias?" Er sagte: "Ich bin es nicht."² Diese Äußerung scheint klar zu beweisen, daß Johannes, Zacharias' Sohn, nicht der verheißene Elias war. Aber am Tage der Verklärung auf dem Berg Tabor sagte Christus deutlich, daß Johannes, Zacharias' Sohn, der verheißene Elias gewesen sei.

¹ Kitáb-i-Iqán. ² Vgl. Johannes 1:19-21

In Kapitel 9, Vers 11-13, des Markusevangeliums heißt es: "Und sie fragten Ihn und sprachen: Die Schriftgelehrten sagen doch, daß zuvor Elias kommen muß. Er aber sprach zu ihnen: Ja, zuvor kommt Elias und bringt alles wieder zurecht. Und wie steht geschrieben von des Menschen Sohn, daß Er viel leiden soll und verachtet werden? Aber Ich sage euch: Elias ist schon gekommen, und sie haben an ihm getan, was sie wollten, wie von ihm geschrieben steht." In Kapitel 17, Vers 13, des Matthäusevangeliums steht: "Da verstanden die Jünger, daß Er von Johannes dem Täufer zu ihnen geredet hatte."

Johannes war also gefragt worden: "Bist du Elias?" Er antwortete: "Ich bin es nicht", obwohl im Evangelium steht, daß Johannes der verheißene Elias war, und auch Christus dies deutlich sagte. Wenn also Johannes Elias war, warum sagte er: "Ich bin es nicht?" Und wenn er nicht Elias war, warum sagte Christus, daß er es wäre? 
 

Beantwortete Fragen T 2

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